Wie wäre es auf einmal wieder in der Schule zu sein? Für Nina Siemers ist das nun Realität. Sie steht als Fellow vor der Klasse und erlebt den Schulkosmos aus einer anderen Perspektive – mit seinen Herausforderungen und Chancen. Wie kann man Kinder und Jugendliche unterstützen und verhindern, dass soziale Ungleichheiten sich auf deren Bildungserfolg auswirken? Nina nimmt uns mit ins Klassenzimmer.

Wie es wirklich ist, auf einmal wieder in der Schule zu sein

Vier Monate lang bin ich jetzt schon als Teach First Deutschland Fellow an einer Stadtteilschule in Hamburg. Man könnte sagen: 1/8 meines Einsatzes ist schon um! Die Zeit rennt und alles passiert irgendwie gleichzeitig. Ich habe mich eingelebt, kann mich immer besser im Alltag behaupten, und habe so viel zu tun, dass mein wichtigster Weihnachtswunsch ein großformatiger Terminplaner ist, damit ich nicht ständig irgendwas vergesse. Gut, ich mag es auch einfach gerne, To-Do Listen zu schreiben und abzuarbeiten. Aber viel los ist trotzdem!

„Frau Siemer, werden Sie unsere neue Klassenlehrerin?“

Ich merke deutlich, wie langsam alles natürlicher, normaler wird. Die Schule ist jetzt mein Alltag. Es fällt mir immer leichter, mich vor meine Schülergruppen hinzustellen, mir Ruhe und Aufmerksamkeit zu verschaffen, ihnen Hilfestellung zu geben und sie herauszufordern. Die richtige Balance zu finden zwischen spaßigen Methoden und im Stoff voranzukommen, ist gar nicht so einfach. Es lässt sich nun mal nicht vermeiden, dass Aufgaben gerechnet und Texte abgeschrieben werden müssen – auch wenn die Schülerinnen und Schüler viel lieber die ganze Zeit Onlinerätsel lösen und Videos gucken würden. Hier bin ich echt froh, so einen „bunten Blumenstrauß an Methoden“ – wie einer unserer Programmmanager sagen würde – auf der Sommerakademie mitbekommen zu haben. Interessanterweise funktionieren besonders die Sachen, die ich auf der Sommerakademie eher doof fand, in der Praxis richtig gut. Mit der „kaputten Schallplatte“ überzeuge ich auch die diskutierfreudigsten Jugendlichen davon, jetzt das zu machen, was sie sollen. Beim „Board Race“ haben auch mal die Jungs mit viel Bewegungsdrang die Chance, zu glänzen. Die „Kahoot-Online-Quiz Plattform“ löst schließlich schreiende Begeisterung und Wettbewerbseifer bei allen aus! Auch bei denen, die sonst zu cool für alles sind – und das selbst bei Dreisatz und Grammatik!

„Frau Siemer, werden Sie dann unsere neue Klassenlehrerin?“ fragt ein Schüler mich hoffnungsvoll, der eigentlich viel von mir gemaßregelt wird, als er erfährt, dass seine Klassenlehrerin schwanger ist und bald geht. Er fragt mich das so oft, dass ich schon mutmaßen muss, dass er auch irgendwie von der Methode der „kaputten Schallplatte“ gehört hat. Auch wenn das nichts daran ändert, dass die Antwort „Nein“ ist, nehme ich es als Kompliment.

Gleichzeitig braucht es viel Fingerspitzengefühl, mit jeder Lehrkraft die passende Dynamik zu finden. Darf ich mal den Stundeneinstieg machen oder ein Vokabelquiz? Kann ich mich einfach ins Unterrichtsgespräch einklinken oder gehe ich nur still herum und helfe bei Aufgaben? Teilen wir die Gruppe und kann ich auch mal den Unterricht alleine vertreten, wenn in meinen Stunden die Lehrkraft krank ist? Dabei ist es längst nicht so einfach, meine Pläne umzusetzen, wie ich noch auf der Sommerakademie geglaubt habe. Die Strukturen in der Schule sind kompliziert. Jede Schule hat tausende Besonderheiten, auf die man sich gar nicht so richtig vorbereiten kann. Von ausgefeilten Stunden- oder gar Reihenplanungen bin ich weit entfernt. Ich bin froh, wenn ich es schaffe, mich in der Pause vor der Stunde mit meinen Kollegen abzusprechen und meine Ideen für kleinere Einheiten einzubringen. Meinen eigenen Ansprüchen und auch denen von Teach First Deutschland gerecht zu werden, fällt da nicht immer leicht.

 „Frau Siemer, wir mögen Sie jetzt nicht mehr!“

„Mach einen Ausflug mit deinen Schülis“ haben sie gesagt. „Das macht Spaß!“ haben sie gesagt. „Sie“ sind in diesem Fall das Hamburger Team von Teach First Deutschland, welches uns regelmäßig mit spannenden Angeboten für coole Aktionen versorgt. Weil ich die vielen coolen Chancen ja auch nutzen möchte, habe ich mich gleich mal angemeldet – zu einem Tagesausflug ins Kunstforum mit einer kleinen Gruppe interessierter Schülerinnen und Schüler. In der Theorie habe ich mir das ganz klasse ausgemalt: Zum Kunstforum kann ich sicherlich genau die begeistern, die ich sonst wenig zu packen kriege: die Stilleren, die gerne zeichnen und im Alltag oft untergehen. Habe ich gedacht, naiv wie ich bin. Als ich in meinen beiden 8. Klassen den Ausflug vorgestellt und beworben habe, hörten meine Kids aber leider nicht „Ausstellung“ und „kreativ arbeiten“ und „kulturelle Bildung“, sondern viel mehr „ein ganzer Tag kein Unterricht“ und „mit Frau Siemer durch Hamburg ziehen“ und „Frühstück umsonst.“ Ja Mist, das hätte ich mir auch denken können.

Konsequenterweise meldeten sich vor allem meine Rabauken freiwillig und wollten mich davon überzeugen, dass es eine super Idee ist, genau die mitzunehmen, die zusammen eine explosive Mischung sind. Zum Glück liegt die letztendliche Entscheidung doch bei mir. Die Quittung bekam ich trotzdem direkt: In meiner nächsten Mittagsaufsicht in der Bücherei kamen zwei der Jungs, die ich sehr ins Herz geschlossen habe, die aber gerne für Unruhe sorgen, mit langen Schritten zielstrebig auf mich zu gestrazt und verkündeten: „Frau Siemer, wir mögen Sie jetzt nicht mehr!“ – sie wollten mit zum Ausflug, aber ich habe sie nicht ausgewählt. Gottseidank weiß ich, dass sie mir schnell verzeihen werden. Ich mag sie ja trotzdem noch. Am Ende war der Ausflug ein voller Erfolg – die Schülerinnen und Schüler waren begeistert von den ausgestellten Bildern, und wurden durch interaktive Aktionen selbst zum Fotografieren und kreativ werden animiert.

„Frau Siemer, sind Sie jetzt immer pünktlich hier?“

Im Gespräch mit den anderen Fellows stelle ich fest: Fast jede und jeder hat es inzwischen geschafft, sich irgendein Refugium zu schaffen, wo sie alleine verantwortlich sind und sich ein bisschen verwirklichen können, zusammen mit den Jugendlichen und Kindern. Ein Bio-Fair-Trade-Café an der Berufsschule, Sport-AGs und DaZ-Kurse, freiwillige Zusatzangebote und feste Pflichtkurse. Meines ist die Schulbücherei. Als absolute Leseratte freue ich mich riesig, Herrin über das Reich der Romane zu sein, Kinder in Büchern versinken zu sehen und  auch nicht so leseaffine Jugendliche mit Mangas und Guinness-Büchern locken zu können. Hier darf ich die Regeln machen und umsetzen, mit engagierten Schülerinnen und Schülern Pausen und Aktionen gestalten und über ein kleines Budget verfügen. Ein Schüler fragte mich halb neugierig, halb anerkennend, ob die Bücherei jetzt immer pünktlich geöffnet würde. Ja, dafür tue ich mein Bestes – denn das ist auch für mich eine Ruheinsel im hektischen Alltag, ein Stück Eigenständigkeit im „Schul-Orga-Wahnsinn.“

Wie wichtig das ist, merke ich auch immer mehr. Denn es ist wahr: Fellow sein ist mehr als nur ein Job. Es geht mir nahe, was da passiert. Es geht um das Leben und die Zukunft von vielen tollen kleinen Persönlichkeiten, die zwischen Pubertät und schwierigen familiären Verhältnissen drauf angewiesen sind, dass jemand an sie glaubt und sie an die Hand nimmt. Es ist mehr als nur eine berufliche Herausforderung Wege zu finden, sie zu begeistern und an sich selbst glauben zu lassen – es ist mir ein persönliches Bedürfnis. Das lässt mich auch am Wochenende planend am Schreibtisch sitzen und unzählige E-Mails schreiben. Manchmal lässt es mich auch schlecht schlafen. Dass es das Wert ist, merke ich zum Glück jeden Tag an den großen und kleinen Erfolgen: ein Schüler mit Lese-Rechtschreib-Schwäche, der mir stolz seine erste eigene Geschichte zeigt. Eine stille Schülerin, die im Unterricht oft völlig blockiert, aber mich offen anstrahlt, weil sie sich auf den Ausflug freut. Ein Schüler, der eigentlich nie aufpasst und immer abschreibt, aber schließlich doch versucht, den Dreisatz selbst zu rechnen. Ja, da geht mir schon das Herz auf für diese Kids und diesen Job. Ich bin angekommen im Schulalltag. Fellow sein, das ist mehr als ein bisschen Unterricht machen.

Als Fellow darf ich jeden Tag ein kleines bisschen die Welt verbessern – und das ist auf jeden Fall größer als irgendein Terminkalender!

    Nina Siemer ist Fellow des Jahrgangs 2018 in Hamburg.