Khaled war Schüler einer unserer Fellows der Klasse 2015. Er stammt aus Afghanistan und ist vor zwei Jahren nach Deutschland gekommen. Unser Fellow schildert, wie Khaled die erste Zeit hier erlebt hat und wie er an der Schule Fuß gefasst hat. Um Khaled zu schützen, haben wir seinen und den Namen des Fellows in dieser Geschichte anonymisiert.

Khaled kommt aus einem sogenannten „sicheren Herkunftsland“, in seinem Fall: Afghanistan. Er wuchs in einem kleinen beschaulichen Dörfchen in den Bergen des Hindukusch als eines der mittleren Kinder einer liebevollen Großfamilie auf. Obwohl Khaled sein Land nie in Friedenszeiten erlebt hat, verlebte er eine durchaus unbeschwerte Kindheit. Sobald er alt genug war, kümmerte er sich um seine kleineren Geschwister und hütete die Ziegen der Familie. Eine Schule gab es nicht in der Region. Seine Mutter lehrte ihm mit Hilfe des Korans ein wenig lesen und schreiben, so gut sie das eben konnte. Khaled spielte Fußball mit seinen Geschwistern und den anderen Kindern des Dorfes.

Doch dann kamen die Taliban. Khaled redet nicht gerne über die Ereignisse. Sein Blick wendet sich jedes Mal ab und er starrt ins Leere. Die wenigen Dinge, die er mir erzählte, erzählen eine Geschichte des Verlusts und der Angst. Verlust von Geschwistern, Freunden, Verwandten und Bekannten. Angst davor, in der Nacht geweckt zu werden, von lauten Stimmen, von Männern mit Gewehren, von Schüssen, von Schreien. Khaleds Familie sparte jedes bisschen Geld, das sie hatten. Auch wurden Ziegen und persönliche Gegenstände veräußert. Als Khaled 13 Jahre alt war, war es soweit. Seine Familie hatte genug Geld gespart, um ihn als ihre ganze Hoffnung nach Europa zu schicken. Damit er in Sicherheit und Frieden lernen kann. Damit er einen guten Beruf ergreift und vielleicht die Familie unterstützen kann.

Am Tag seiner Flucht beginnt dann ein Kapitel in seinem noch recht kurzen Leben, über das er auch nicht gerne redet. Doch die Narben in seinem Gesicht erzählen genug. Khaleds Flucht dauerte zwei Jahre. Allein unter fremden Menschen in fremden Ländern. Fast immer unterwegs. Immer die Angst, eingefangen und zurückgeschickt zu werden. Wenig Kontakt zur Familie. Im Sommer 2015 erreichte Khaled die vorerst letzte Station seiner Reise. Er kam im Ruhrgebiet an und wurde als unbegleiteter, minderjähriger Flüchtling in einem Heim untergebracht. Immer noch allein, immer noch unter Fremden. Aber mit anderen Kindern, die seine Erlebnisse nachempfinden konnten.

Neugier und Aufregung vor dem ersten Schultag

Deutschland war ein seltsames Land. Ganz anders als sein vertrautes Bergdorf. Alle in geschäftiger Eile. Unfreundliche Menschen, die eine ganz furchtbar klingende, harte und völlig unverständliche Sprache sprachen. Doch es gab auch viele nette Deutsche. Einige seiner Betreuer waren wirklich gute Menschen. Sie kümmerten sich um ihn, gaben ihm zu essen und brachten ihm erste deutsche Worte bei. Aber nachts im Bett vermisste er sein Dorf und vor allem seine Familie. Immerhin konnte er gelegentlich mit seiner Mutter über Skype telefonieren, da es im Dorf inzwischen einen Internetzugang gab. Bald kam die Nachricht, dass Khaled ab November die Internationale Vorbereitungsklasse einer Gesamtschule besuchen sollte. Seine erste Schule! Er fieberte seinem ersten Schultag mit einer Mischung aus Freude, Neugier und Aufregung, aber auch einem kleinen bisschen Angst entgegen. Würden die anderen Schüler nett sein? Würden die Lehrer ihn schlagen, wenn er etwas nicht verstand? Er hatte einige wirklich schlimme Geschichten von den anderen Jungs in seiner Einrichtung gehört, die sie in ihren Heimatländern in der Schule erlebt hatten. Immerhin hatte seine Mutter ihn immer ermahnt, stets höflich, freundlich und respektvoll zu Erwachsenen zu sein. Und die Betreuer schlugen ihn ja auch nicht. Es beruhigte ihn auch etwas, dass ein paar seiner Freunde aus dem Heim ebenfalls an dieselbe Schule gehen würden.

Der erste Schultag kam. Mit den anderen Kindern saß er zusammen in einem kleinen Büro bei einer älteren Frau. Auch war da ein langhaariger, jung wirkender Mann. Das sollte wohl einer seiner Lehrer sein. Naja, unfreundlich wirkten diese Menschen immerhin nicht. Aber verstehen konnte er gar nichts. Das konnte ja heiter werden. Wenigstens ging es ihm nicht alleine so. Die anderen Kinder kamen von überall her. Syrien, Irak, Eritrea, Somalia… nur niemand aus Afghanistan. Gott sei Dank hatte er auf der Flucht und im Heim, und dank seiner Mutter, aus dem Koran ein wenig Arabisch gelernt. So konnte er sich zumindest mit einem Teil der Gruppe verständigen.

Die erste Unterrichtsstunde begann. Der junge Lehrer erklärte mit Händen und Füßen all die fremd klingenden Wörter. Er lachte auch viel. Entgegen Khaleds Befürchtungen wurde er auch gar nicht geschlagen. Der Lehrer erklärte Worte auch fünf- oder sechsmal, wenn Khaled mal wieder nichts verstand. Lesen und schreiben hatte er schon im Heim ein bisschen gelernt. Zumindest die deutschen Buchstaben, oder was die Deutschen eben für solche hielten. Es fiel ihm aber sehr schwer. Von Woche zu Woche klappte es aber besser mit dem Reden. Er lernte immer neue und immer schwierigere Wörter. Der Lehrer war jeden Tag bei ihm und seinen Klassenkameraden. Er hörte auch immer zu, wenn man reden wollte, hatte Rat für den Umgang mit Ämtern oder erklärte Briefe in verständlicherer Sprache. Insgesamt waren alle Lehrer und Lehrerinnen seiner Schule geduldig und nahmen sich Zeit für ihn und die anderen. Sie unternahmen gemeinsam Ausflüge, beispielsweise an den See oder zum Klettern.

Die Liebe zu Holz

In der Klasse war Khaled durch seine offene, ehrliche und freundliche Art sehr beliebt. Er schlichtete Streit, wenn es welchen gab, und half den Lehrer*innen gerne, die Klasse ruhig zu halten, damit alle besser Deutsch lernen konnten. Im Technikunterricht entdeckte er seine Liebe zu Holz. Die Lehrer*innen der anderen Fächer wechselten leider oft, manchmal blieben sie nur ein paar Wochen. Aber der junge Lehrer, der ihn von Beginn an in Deutsch unterrichtet hatte, begleitete ihn die ganze Zeit, genau wie seine Klassenlehrerin. Ihnen konnte er auch von seinen Sorgen aus der Heimat erzählen. Von seinem Heimweh. Wenn seine Mutter krank war. Wenn sein großer Bruder von den Taliban verschleppt wurde. Auch als seine kleine Schwester starb, die er noch nicht einmal kennengelernt hatte, hörte man ihm zu und sprach ihm tröstende Worte zu. Und sie vermittelten ihn an einen Sportverein, als sie bei einem Sportfest sein Talent für Leichtathletik entdeckten.

Inzwischen ist Khaled seit fast zwei Jahren an der Schule. Er hat den Schulalltag erlebt, mit allen Höhen und Tiefen. Er hat viel besser Deutsch gelernt, auch wenn er immer noch nicht gerne schreibt und liest, weil ihm das noch sehr schwer fällt. Khaled ist im Leistungskader für Leichtathletik seines Sportvereins. Fast die ganze Schule kennt und schätzt ihn. Die Einrichtung, wo er gewohnt hat, hat er dreimal gewechselt. Inzwischen wohnt er mit einem anderen Jungen in einer eigenen Wohnung. Nach den vergangenen Sommerferien ist Khaled, der inzwischen 16 Jahre alt ist, auf ein Berufskolleg gewechselt. Dort wird er noch mehr Deutsch lernen und kann vor allem noch stärker handwerklich arbeiten.

Khaled hat noch oft Heimweh. Aber er hat erlebt, dass es auch hier gute Menschen gibt, die ihm helfen und die an ihn glauben.

Wie Khaleds Geschichte weiter geht, weiß ich nicht. Ob er einen Abschluss schaffen und Schreiner werden wird. Oder ob er seinen Traum erfüllen kann und bei den Olympischen Spielen eine Goldmedaille für Deutschland holen wird. Es erfüllt mich jedenfalls mit Stolz und großer Freude, Khaled ein Stück auf seinem Lebensweg begleitet zu haben, ihn unterstützen zu können, seine Talente zu fördern und ihm den Glauben zu vermitteln, etwas erreichen zu können.