An der Schule unserer Fellow Marie gibt es, jenseits des Systems, den Schulzirkus Radelito. Seit 26 Jahren besteht dieses Projekt, das auf erstaunliche Art und Weise zeigt, wie auch Kinder, die sonst durchs Raster fallen, eine Berufung finden.

Den Zirkus „Projekt“ zu nennen, wird der Sache eigentlich nicht gerecht. Es handelt sich eher um eine Institution im Schulkosmos, einen Rückzugsort vor dem Schulalltag, ein etabliertes Aushängeschild unserer Schule.

Vor 26 Jahren gründete ein innovativer Mathelehrer an der Willy-Brandt-Gesamtschule die Zirkus-AG, woraus schnell der Circus Radelito wurde. Unsere Aula ist in erster Linie eine Manege. Von der Decke hängen Trapeze und Vertikaltücher, überall fahren Kinder auf Einrädern herum, durch die Luft fliegen Jonglierbälle und Diabolos. Weiter hinten steht ein Drahtseil, dehnen sich Schülerinnen akrobatisch auf einer riesigen Rollmatte und mittendrin, zwischen Decke und Boden installiert, steht ein hoher Mast, an dem sich völlig angstfrei ein paar Schüler hochziehen und herunterfallen lassen.

Kommt man als neue Lehrkraft in dieses Gewusel, ist der Lärm überwältigend und niemand könnte sich einen Reim auf das Chaos machen. Aus vier verschiedenen Tonquellen strömen unterschiedliche Lieder, zu denen die Kinder erstaunlich professionell trainieren. Hier ein Spagat, da eine Pirouette, surrend über den Köpfen ein komplizierter Diabolo-Trick.

Lernen muss nicht nur im Unterricht stattfinden

Ich bot im Rahmen der Zirkus-AG eine Tanz-AG an. Irgendwann kam eine Schülerin zu mir: „Marie, kannst du mir einen Trick am Vertikaltuch zeigen?“ Ich konnte mir nicht einmal vorstellen, da hoch zu kommen, geschweige denn, mich nur an den eigenen Armen haltend, einen Trick in luftiger Höhe zu vollführen! Eine der älteren Schülerinnen bekam das mit, hakte das Mädchen unter und sagte: „Komm, ich zeig’s dir.“ Eine halbe Stunde später war das Mädchen in der Lage, zwei einfache Tricks unter der Anleitung der Älteren auszuführen. „Woher können die SuS das alles?“, fragte ich den „Zirkusdirektor“, der gelassen alles beobachtete. „Lernen die einfach. Durch Zugucken, Ausprobieren und Durchhalten“, antwortete er. „Wir gucken nur, dass sie sicher sind.“

Ich sah mir die Schülerinnen und Schüler genauer an: Einige kannte ich vom Sehen, vom Querbeet-Hospitieren zu Beginn meines Einsatzes. Es handelt sich teils um solche, die im Unterricht das Label des „schwierigen“ Schülers haben: Schlechte Noten, Boykott des Unterrichts, Stören der Mitschüler*innen, Arbeitsverweigerung. Aber im Zirkus sind manche von ihnen richtige Stars! Das trifft übrigens nicht nur auf die sportlichen Kids zu: Jene, die sich für Anstrengungen am Trapez nicht interessieren oder keine Geduld für Jonglage haben, helfen beim Auf- und Abbau der Geräte, bei der Technik, lernen über Akustik und Licht, können Einräder reparieren und die Kasse beim Kartenverkauf führen.

Ich begriff: In dieser Realität bringen erfahrene Schülerinnen und Schüler den neuen Schülerinnen und Schülern etwas bei, übernehmen Verantwortung für ihren Lernerfolg und den von anderen. Lehrerinnen und Lehrer sind Aufsichtspersonal, trösten, kühlen blaue Flecken, fahren zu Auftritten, organisieren im Hintergrund. Im regulären Unterricht fehlt dieses Konzept zu oft. Im Zirkus ist es ein Selbstläufer. Die Kinder duzen uns – und falls wir sie im Unterricht haben, wechseln sie ganz einfach zum Sie.

Man darf es nicht als Arbeit sehen

Seit einem halben Jahr ist der „Zirkusdirektor“ in Rente. Er bleibt im Hintergrund, beratend. Übernommen hat ein sechsköpfiges Team aus Sportlehrer*innen und mir. Jeden Dienstagabend bieten wir zusätzliches Training an, haben Fortbildungen in der Zirkuspädagogik absolviert, mit einer Kollegin besuche ich seit drei Monaten einen Vertikaltuchkurs. Stundenlang, weit über die normale Arbeitszeit hinaus, schreiben wir Programme, entwerfen Plakate, denken uns Werbung aus. Denn im März steht die große Premiere an, die alljährliche Aufführung, bei der die Artistinnen und Artisten neue Kunststücke präsentieren können und wir zeigen müssen, dass wir der Radelitos würdig sind. Wer im Zirkus ist, darf das nicht als Arbeit sehen. Es ist ein Hobby, das zufällig am Arbeitsplatz stattfindet.

 

 

 

 

Marie Cornell Zender ist Fellow der Klasse 2015 an der Willy-Brandt-Gesamtschule in Köln und bloggt regelmäßig über ihren Schuleinsatz.