Die internationale Vorbereitungsklasse

Unser Fellow Marius Runkel hat für den Jahresbericht seiner Einsatzschule einen Blick auf das Thema Zuwanderung und die Herausforderungen für Gelsenkirchen und seine Schule geworfen. Herausgekommen ist ein umfassender Bericht über die Arbeit in den Willkommensklassen.

„Versagt Europa in der Flüchtlingsfrage, geht [die] enge Bindung mit den universellen Bürgerrechten kaputt […] und es wird nicht das Europa sein, das wir uns vorstellen, und nicht das Europa sein, das wir als Gründungsmythos auch heute weiterentwickeln müssen.” (Merkel, 2015)

Laut einer Studie des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nation aus dem Jahr 2015 sind weltweit mehr als 60 Millionen Menschen auf der Flucht – so viele wie nie zuvor – die Hälfte hiervon Kinder (UNHCR, 2015). Krieg und Terror im Nahen Osten, Konflikte in den nordafrikanischen Maghreb Staaten, Unruhen in Afghanistan, wirtschaftliche Ausweglosigkeit im Balkan sowie Bürgerkriege in vielen afrikanischen Regionen: Menschen machen sich auf, lassen Freunde, gewohnte Strukturen, oft auch ihr engstes familiäres Umfeld zurück und verlassen ihre Heimat in ihrem Bestreben nach einer tragfähigeren Zukunft, nach einem für uns Europäer vollkommen selbstverständlichen, besseren Leben für sich und ihre Kinder. Etwa 6,7 Millionen (UNHCR, 2015) von ihnen gelangten im Jahr 2015 voller Hoffnung nach Europa – davon 1,1 Million Asylsuchende (BMI, 2016) auch nach Deutschland. Die Stadt Gelsenkirchen verzeichnete im Jahr 2015 10.920 zugezogene Menschen mit Zuwanderungs- und Fluchtgeschichte – 3.631 hiervon Kinder bis 18 Jahre (Statistikstelle Gelsenkirchen, 2016).

Sicher ist, dass dies die Gemeinschaft der Einwohner einer Stadt wie Gelsenkirchen mit ihrem Integrationsbeauftragten Mustafa Cetinkaya vor die große Herausforderung einer gelingenden Integration, des Abbaus von Vorurteilen und der Förderung von Toleranz und Miteinander stellt. Sicher ist jedoch auch, dass die aktuelle Zuwanderung eine einzigartige Chance für die Bundesrepublik darstellt: Emigration als Zukunftsinvestition von Talenten und Fähigkeiten auf dem Arbeitsmarkt wirkt dem demografischen Wandel entgegen, eine gesteigerte Nachfrage auf den Märkten stellt sich langfristig ein und der Zuwachs an kultureller Vielfalt und Identität gibt dem Land ein zukunftsfähiges Gesellschaftsmodell mit Vorreiterpatent in Sachen internationaler Mobilität und Flexibilität. Um dies zu gewährleisten, ist der Schlüssel für eine gelungene Integration vor allem eine nachhaltige Bildung für die Kleinsten, die nächste Generation in unserem Land. Das Kommunale Integrationszentrum Gelsenkirchen, kurz KIGE, steuert die Beschulung dieser Kinder und Jugendlichen in Gelsenkirchen, teilt Schulplätze zu und ist gleichzeitig Ansprechpartner für die Schulen. Nach Informationen der KIGE (2016) befinden sich an den Schulen in Gelsenkirchen, Stand 30. Mai 2016, 2.037 SchülerInnen in 120 Internationalen Förderklassen, sogenannten Vorbereitungsklassen. 1.660 neue Seiteneinsteiger, d.h. Kinder und Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte, die im Laufe eines Schuljahres ab dem 1. August an einer Gelsenkirchener Schule aufgenommen werden, verzeichnete die KIGE alleine im Schuljahr 2015/2016. Gegenüber dem Vorjahreszeitraum entspricht dies einem Anstieg von mehr als 100 Prozent. Pro Woche kommen 38 neue SchülerInnen. Die Mehrzahl der Kinder und Jugendlichen kommen als Flüchtlinge aus nicht-EU Herkunftsländern (52 Prozent) wie Syrien, dem Irak und Afghanistan sowie aus den südosteuropäischen Staaten Rumänien und Bulgarien nach Gelsenkirchen (KIGE, 2016).

Die Beschulung dieser Kinder vollzieht sich aus rechtlicher Perspektive betrachtet wie folgt: Laut BASS 13-63 Nr.3, 2.1 (Schulministerium NRW, 2014) darf die Verweildauer von SchülerInnen in einer Vorbereitungsklasse in der Regel zwei Jahre nicht überschreiten: „Ziel der Vorbereitungsklasse ist die schnellstmögliche Eingliederung der Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungsgeschichte in die ihrem Alter oder ihrer Leistungsfähigkeit entsprechende Regelklasse. Sie sollen in der deutschen Sprache […] intensiv und individuell gefördert werden. Ein vorzeitiger Übergang ist anzustreben.“

Auch am Grillo-Gymnasium bietet sich nun seit einiger Zeit die große Chance, Kinder und Jugendliche mit Zuwanderungs- und Fluchthintergrund zu fördern und ihnen eine handlungsfähige und selbstbestimmte Teilhabe an unserer Gesellschaft im Ruhrgebiet und in Deutschland zu ermöglichen. Mit Beginn des Schuljahres 2015/2016 wurden am Grillo zwei nicht-integrierte Internationale Förderklassen, „IFö 1“ und „IFö 2“, mit 21 beziehungsweise 18 SchülerInnen eingerichtet (Stand: 1. Juni 2016: 26 bzw. 12 SchülerInnen), die bis auf wenige Ausnahmen erst seit wenigen Monaten in Deutschland leben. Während in der IFö 1 die Jahrgänge 2003 bis 2005 beschult werden, gehen in die IFö 2 SchülerInnen der Jahrgänge 2000 bis 2002. In der teilintegrierten Internationalen Förderklasse „IFö 3“, die bereits im April 2014 installiert wurde, kommen momentan 19 SchülerInnen für 15 Stunden in der Woche zum gemeinsamen Deutschlernen zusammen und erfahren den weiteren Unterricht mit ihren KlassenkameradInnen in ihren jeweiligen Regelklassen. Für die Koordinatorin der Förderklassen am Grillo, Kristina Roth, hat die schnellstmögliche Integration von SchülerInnen mit Zuwanderungsgeschichte oberste Priorität: „Sobald wir diagnostizieren, dass die Kinder und Jugendlichen mit ihrer erworbenen Sprachkompetenz dem Unterricht in einer Regelklasse folgen können, werden  diese teilintegriert. Die SchülerInnen erhalten so Anschluss an die Regelschülerschaft und kommen mit MitschülerInnen in Kontakt, mit denen sie Deutsch sprechen müssen. Dies beschleunigt ihren eigenen überfachlichen und fachlichen Lernzuwachs, insbesondere in der deutschen Sprache, immens.“

Bis sie so weit sind, lernen die SchülerInnen der beiden Vorbereitungsklassen IFö 1 mit Klassenlehrerin Laura Emans und IFö 2 mit Klassenlehrer Cem Öztan, wissbegierig und zielstrebig 28 Stunden in der Woche gemeinsam in den Fächern Mathematik, Englisch, MINT, Musik und Sport sowie natürlich im Fach Deutsch, das 13 bzw. 14 Stunden im Plan einnimmt. Binnendifferenzierung, Teamteaching, Teilungsgruppen mit eigenem Differenzierungsraum und individuelle Förderung helfen dabei, die SchülerInnen gezielt und individuell gemäß ihrer Kompetenzen zu fördern. Neben dem normalen Unterricht haben Emans und Öztan erfolgreich zusätzliche Angebote für ihre SchülerInnen organisiert: u.a. Alphabetisierungskurse, theaterpädagogisches Arbeiten, Integration in Sportvereine der Stadt, Reflexionsgespräche, Anfängerschwimmkurse in den Ferien, Sportangebote, Spiele-AGs, Schreibwerkstatt, Elterncafé und eine Brieffreundschaft mit einer Regelklasse aus Waltrop. Es ist daher nicht verwunderlich, dass der Lernzuwachs, vor allem in der deutschen Sprache, bei den meisten SchülerInnen durchaus beachtlich ist. „Es ist eine große Herausforderung für alle. Am Ende des Tages ist es jedoch wunderbar zu sehen, wie schnell sich einzelne SchülerInnen entwickeln und mit welchem Elan sie dabei sind. Dies allein sorgt für viele gemeinsame schöne Momente mit den SchülerInnen. Wenn dann noch die Elternarbeit gelingt, ist eine gute Basis für den SchülerInnenerfolg gelegt“, sagt Emans. Selbstverständlich wird nicht jeder am Grillo seinen Weg gehen können, da nicht jeder gymnasialgeeignet ist. Dies muss aber auch nicht sein. „Es geht darum, dass jeder nach seinen Möglichkeiten gefördert und gefordert wird. Wichtig ist, dass alle SchülerInnen einen Abschluss in der Tasche haben, wenn sie in ein paar Jahren ihre Schullaufbahn beenden, um dann einen Job zu finden, eine Ausbildung zu machen oder ein Studium zu beginnen. Das kann langfristig auch auf der Gesamt- oder der Realschule passieren, “ erklärt Roth.

Bemerkenswert findet Emans die harmonische Klassengemeinschaft: „Insbesondere wenn man die große Heterogenität, die individuellen Hintergründe, Kulturen, Sprachen, Geschichten, Talente, Fähigkeiten und Erlebnisse bedenkt, die die Kinder mitbringen.“ In der Tat tummeln sich viele unterschiedliche Persönlichkeiten aus u.a. Syrien, Rumänien, Serbien, der Türkei, Bulgarien, Spanien, Griechenland, Ägypten, Albanien und Italien in den beiden Klassen. Emans´ Kollege Öztan begreift die zuwanderungsbedingte Vielfalt als Chance und möchte diese auch in der Schule gezielt betont wissen: „Migration ist kein neues Phänomen in Deutschland. Es gilt diese Vielfalt an Individuen mit all ihren Stärken und Ressourcen optimal zu fördern.“ Viele der Kinder beherrschen gleich mehrere Sprachen und möchten einiges erreichen in Deutschland. So wie die Geschwister Dana (13) und Mohammad (15) aus Syrien. Beide flohen mit ihren Eltern vor dem Krieg und sind seit Juni 2015 in Deutschland. Dana besuchte die siebte Klasse in Syrien, Mohammad die neunte. „In Al-Hasaka meine Schule ist kaputt. Ich vermisse meine Freunde sehr“, sagt Mohammad leise. Nach der Schule haben beide große Ziele: Dana möchte Lehrerin werden, Mohammad Ingenieur. Auch wissen sie genau, was sie tun müssen, um dies zu erreichen: „Lernen, weil lernen ist ganz wichtig für die Zukunft“, erklärt Dana stolz. Das Geschwisterpaar hat den ersten Schritt hierfür gemacht und ist inzwischen in der 6a bzw. 7a teilintegriert. Ihre Mitschülerin in der IFö 1 ist Annamaria (12, Rumänien). Sie ist eine lebensfrohe Schülerin mit schauspielerischem und künstlerischem Talent, die das Schreiben und Malen liebt. Ihr Berufsziel ist daher auch schnell formuliert: „Reporterin oder Schauspielerin“, schmunzelt Annamaria. Neben rumänisch spricht sie fließend italienisch. Aleks (11, Bulgarien) ist ein sehr intelligenter Junge, der genau weiß, was er will und was er nicht will. Er besitzt einen ausgeprägten Beschützerinstinkt und ein hohes Gespür für Gerechtigkeit. Aleks liebt Fußball. Sein Vorbild: Lionel Messi vom FC Barcelona. Auch wenn es für ihn noch einige Stolpersteine mit der deutschen Sprache gibt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis er durchstartet. Sena (12, Türkei) hat immer gute Laune und das steckt an. Ihre guten Ideen sprudeln nur so aus ihr heraus. Sie ist kreativ und unglaublich mitteilsam. „Ich mag malen und sprechen“, sagt Sena grinsend. Nach der Schule möchte sie ein Geschäft mit Hochzeitskleidern eröffnen, die sie selbst gestaltet. Ihre Freundin, Sevil (11, Griechenland), ist eine wahre Sportskanone. Kein Bewegungsablauf scheint für sie zu kompliziert, kein koordinativer Anspruch zu groß. Auf Grund ihrer Aufgewecktheit lernt Sevil Bewegungsmuster sehr schnell. Sie hat Spaß am Ausprobieren von Neuem und schreckt nie vor Herausforderungen zurück. Ebenfalls sportbegeistert ist Sabiana (16) aus Albanien. Als Basketballerin möchte sie ihr Hobby irgendwann zum Beruf machen: „Wenn ich einen Ball in der Hand habe, vergesse ich alles“, sagt das große Mädchen selbstbewusst. Ihr Tischnachbar Denis (13, Spanien) möchte Zahnarzt werden – am liebsten jedoch Fußballprofi. Denis geht in einen Fußballverein in Gelsenkirchen, der ihn bei der außerschulischen Integration und seinem Spracherwerb erfolgreich unterstützt. Klar, dass der kommunikative junge Spanier daher auch schon längst auf Deutsch viel spricht. „Natürlich vermisse ich meine Freunde aus Spanien, aber hier in Deutschland ist es besser zum Lernen“, sagt er optimistisch. Auch Rupi (14, Rumänien) sieht das so. Seit einem Jahr ist er in Deutschland und hat schon viele neue Freunde in Gelsenkirchen und am Grillo-Gymnasium gefunden. „Ich mag das Grillo sehr“, sagt er. Später möchte er wie sein Vater und sein Opa vor ihm Dachdecker werden. Seine Klassenkameradin, die gebürtige Rumänin Adelina (16), kam vor einem Jahr aus Spanien nach Deutschland. Sie ist aufgeschlossen und lernt gern. Das liege an den engagierten Lehrern wie sie ganz nebenbei zur Sprache bringt: „Die Lehrer sind alle gut zu den Kindern.“

So wie Dana, Mohammad, Annamaria, Aleks, Sena, Sevil, Sabiana, Denis, Rupi, und Adelina haben alle Kinder mit Zuwanderungsgeschichte in den Förderklassen am Grillo einzigartige Talente, Potenziale und Stärken. Sie sind Menschen wie du und ich: mit Träumen, Zielen, Ambitionen, Wünschen, aber auch Ängsten und einem ausgeprägten Bewusstsein für ihre bevorstehenden Herausforderungen. Sie sind Individuen, die es zu fördern gilt und denen eine Teilhabe am schulischen und gesellschaftlichen Leben ermöglicht werden muss. Die Grundvoraussetzungen für eine gelingende Integration sind nicht zuletzt durch das großartige Engagement der beiden KlassenlehrerInnen Laura Emans und Cem Öztan, der Koordinatorin Kristina Roth sowie der FachlehrerInnen gegeben, die sich mit Zeit, Kraft, Mut, Identifikation und einer gehörigen Portion Idealismus für ihre Kinder auch außerhalb der Schule einsetzen und den integrativen Vielfaltsgedanken in das Grillo tragen. Ohne Frage können die Kinder der Vorbereitungsklassen als Grillonen das Leitbild des Grillos neudefinieren und Aushängeschild ihrer Schule werden. Zuwanderung am Grillo bedeutet daher nicht zuletzt eine einzigartige Chance für alle. Mit einem engagierten Kollegium, einer sensibilisierten Regelschülerschaft und anteilnehmenden Eltern ist dies machbar. Oder um den Bogen zu Angela Merkels Worten auf der Bundespressekonferenz vom August 2015 zu schlagen: „Wir schaffen das“ (Merkel, 2015).

 

QUELLEN //

BMI, (2016). 2015. Mehr Asylanträge in Deutschland als jemals zuvor. Eingeholt im Mai, 27, 2016 von http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2016/01/asylantraege-dezember-2015.html

KIGE (2016). Persönliche Kommunikation. Mai, 31, 2016.

Merkel, A. (2015). Sommerpressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel. Eingeholt im Mai, 27, 2016 von https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Mitschrift/Pressekonferenzen/2015/08/2015-08-31-pk-merkel.html

Schulministerium NRW (2014). Unterricht für Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungsgeschichte, insbesondere im Bereich der Sprachen. Eingeholt im Mai, 27, 2016 von https://www.schulministerium.nrw.de/docs/Recht/Schulrecht/Erlasse/Herkunftssprache.pdf

Statistikstelle Gelsenkirchen (2016). Persönliche Kommunikation. Juni, 1, 2016.

UNHCR, (2015). Weltweit fast 60 Millionen Menschen auf der Flucht. Eingeholt im Mai, 27, 2016 von http://www.unhcr.de/home/artikel/f31dce23af754ad07737a7806dfac4fc/weltweit-fast-60-millionen-menschen-auf-der-flucht.html

 

Autor: Marius Runkel ist Fellow der Klasse 2015 am Grillo-Gymnasium in Gelsenkirchen.