Lesen und schreiben lernt man in der ersten Klasse. Oder? Nicht so im Fall von Ahmed aus Afghanistan. Als Fellow Linda ihn in der ersten Schulwoche trifft, plappert er zwar munter auf Deutsch auf sie ein. Aber der Schein trügt: Ahmed kann nicht richtig lesen und schreiben. Linda und er stehen daher vor einer großen Herausforderung.
„Ha – A – eL – eL – O“, liest Ahmed von meinem Schmierblatt ab und schaut mich aus großen braunen Augen an. Da er sich mit dem Lesen und Schreiben so schwertut, habe ich ihn in ein Nebenzimmer geholt und versuche herauszufinden, was er schon kann und wo er stolpert. Nur so können meine Kollegin und ich überlegen, wie wir ihn am besten fördern.
„Ja richtig!“, lobe ich, „Wie heißt das Wort dann?“ Betretenes Gesicht, nervöses hin und her Wackeln, schließlich ein resigniertes Schulterzucken und ein Flüstern: „Aber ich weiß es doch nicht.“ Perplex schaue ich ihn an: „Du kennst doch alle Buchstaben, du hast sie mir gerade vorgelesen.“
Es hilft nichts. Ahmed ist Klassenmeister im Buchstabieren, doch wie aus den einzelnen Buchstaben ein ganzes, zusammenhängendes Wort wird, hat er bisher nicht verstanden. Schockiert schaue ich ihn an, er grinst zurück und fragt: „Können wir jetzt spielen?“ Ich muss auch grinsen, verneine seine Frage aber, denn wir haben jetzt eine echte Herausforderung zu meistern.
Zurück zum Übungsheft von Klasse Eins
Ahmed ist 13 Jahre alt und übt jetzt also schreiben und lesen mit einem Grundschulheft aus Klasse Eins. Sehr hilfreich ist, dass er schon so gut sprechen kann und viele Vokabeln kennt. Mit der Anlauttabelle, die ihn beim Lesen unterstützt („A wie Ameise“, „Mmmm wie Mond“), kann er super umgehen.
Wir sitzen im Nebenraum des Klassenzimmers und mit seiner Lesemaschine, die jeden Buchstaben einzeln nacheinander zeigt, liest er langsam vor: „MMMMM – AAAAA – MMMMM – IIIIIII“… „Ma – Mi“… dann ruft er plötzlich „Mami!“ und springt von seinem Stuhl auf, klatscht in die Hände und fragt: „Richtig Frau Hesser, da steht Mami?!“ Das nächste Wort bereitet ihm mehr Schwierigkeiten. „Timo“ enthält ein „T“ und das ist für ihn gar nicht so leicht zu verstehen. Doch nach zwei weiteren Leseeinheiten unter vier Augen schafft er auch Wörter mit T ohne Probleme.
Ahmed lernt schnell. Wenn er mich im Klassenzimmer sieht, ruft er mir schon ein freudiges „Hallo Frau Hesser, ich will lesen!“, entgegen. Ein Glück, dass es ihm Spaß macht. Mittlerweile liest er schon kleine Sätze. Buchstabe für Buchstabe haben wir das Alphabet neu gelernt, wie man das in der Grundschule so tut. Ich hätte nie gedacht, dass ich, wo ich doch an einer weiterführenden Schule eingesetzt bin, einmal mit einem Grundschüler arbeiten werde, doch genau das ist er im Prinzip.
Lesen und schreiben
Dass Schreiben und Lesen zusammengehören, glaubt er mir allerdings noch nicht. Als Hausaufgabe bekommt er von mir meistens fünf Wörter oder Buchstaben. In jede der Zeilen seines Blocks mit Schreiblinien für Klasse Zwei schreibe ich eines der Wörter. Zuhause soll er diese nachschreiben.
Was er mir am nächsten Tag bringt, sieht nicht nach seiner Schrift aus. „Hast du das selbst geschrieben, Ahmed?“, möchte ich wissen. Es folgt ein schelmisches Grinsen – der Kerl ist ja nicht blöd – dann gibt er ehrlicherweise zu: „Nee, meine Schwester hat mir geholfen.“ Na super. Nachdem ich erfahren habe, wie die Schwester heißt, schreibe ich ihr auf der Rückseite des Blattes einen netten Brief. Sie kann zwar super schön schreiben, aber das muss ihr Bruder dann doch selbst meistern. Mal sehen, ob sie ihn dazu bringt.
So viel Freude wie Ahmed beim Lesen hat, so viel Frust kommt leider in ihm hoch, wenn es ans Schreiben geht. Da er schon eine Weile Vorbereitungsklassen an verschiedenen Schulen besucht hat, musste er wohl schon einiges durchmachen. Wenn er schreibt, sieht es aus als würde er jeden Buchstaben einzeln malen. Das ist mühsam und für ihn frustrierend, wenn ich nicht verstehe, was er da geschrieben hat. Sein sonst so strahlendes Gesicht legt sich dann in Falten und er sieht beinahe etwas älter als vorher aus. Ja, da fehlt ihm die Geduld, lieber möchte er lesen und spielen und durchs Klassenzimmer hüpfen.
Eine Geduldsprobe, die sich lohnt
Doch je mehr Buchstaben und Wörter er lesen kann, desto mehr Wörter möchte er auch selbst in seine Lesemaschine schreiben. Von daher bin ich zuversichtlich, dass ihn auch irgendwann die Motivation fürs Schreiben packen wird.
Nicht nur für Ahmed, auch für mich ist das ein ganz neuer Lernprozess. Er stellt meine Geduld auf die Probe und verlangt mir einiges an Kreativität ab. Das alles lohnt sich aber sehr, da ich beobachten kann, wie sich Stück für Stück eine neue Welt für ihn öffnet. Je mehr Wörter und Sätze er liest, desto mehr Zutritt hat er zur Schrift und zu allem, was er in der Schule in Heften und Büchern lernen kann. Sein Lernhorizont erweitert sich dadurch enorm. Ich bin daher sehr zuversichtlich, dass er irgendwann in nicht allzu weiter Zukunft perfekt im Deutschen sein wird. Akzentfrei spricht er ja schon. Und alles Weitere kommt Schritt für Schritt, und gemeinsam – wir beide als Team.
INFO // Wie funktioniert eine Lesemaschine?
Auf den kleinen Streifen aus laminiertem Papier schreibt man Wörter. Am besten mit Folienstift, damit sich die Wörter danach wieder abwaschen lassen. Der Streifen verschwindet in der Lesemaschine und man kann ihn Schritt für Schritt heraus ziehen um das Wort Buchstabe für Buchstabe zu lesen. So erschließt sich implizit das Prinzip Lesen, also die Buchstaben aneinander zu reihen, zusammen zu ziehen zu einem Wort. Außerdem steigt so die Spannung – was steht dort wohl geschrieben?
Autorin: Linda Hesser ist Fellow der Klasse 2016. Ihre Einsatzschule ist die Rosensteinschule in Stuttgart.