Im vergangenen Sommer fanden im Rahmen der Fellow-Qualifizierung die ZAPup-Lernferien in Mannheim und Berlin statt. Neben drei Schulen war ein Standort, der erst kurz vor Start der Lernferien hinzukam, die Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge „Benjamin Franklin Village“ in Mannheim. Was die Besonderheit dieses Standorts ausmachte und warum dort aber neben all der Last-Minute-Herausforderungen auch ganz besondere Glücksmomente entstanden sind, das erzählen Antonio Piscopo, Senior Manager der Region Ost und Projektmanager der Lernferien, und Michael Raible, Programm-Manager in Baden-Württemberg und pädagogischer Leiter am Benjamin Franklin Village. 

Antonio Piscopo, Projektmanager der Lernferien

Antonio, wie kam es dazu, dass wir einen Teil der Lernferien im vergangenen Sommer in der Flüchtlingsunterkunft Benjamin Franklin Village in Mannheim abgehalten haben?
Antonio Piscopo: Es war das klassische TFD-Ding und hieß: Ein Problem in eine Chance umwandeln. Bei der Planung für die Lernferien in Mannheim haben wir unterschiedliche Herausforderungen erlebt: die Anzahl der Schüler*innen-Anmeldungen für die Lernferien hat nur sehr langsam die Flughöhe gewonnen, mit der wir geplant hatten und die wir brauchten, damit unsere neuen Fellows realitätsnahe Klassenbedingungen erleben können. Dazu kamen in Mannheim noch weitere Faktoren, die die Komplexität der Organisation weiter erhöht haben. In der Regel versucht man dann, die Komplexität zu reduzieren. In unserem Fall haben wir aber entschieden, die Komplexität noch komplexer zu machen und haben das Projekt an zwei Stellen erweitert: Eine Erweiterung haben wir in Berlin vorgenommen und die Teilnahme für doppelt so viele Schüler*innen – 95 statt 45 – am Standort Spandau ermöglicht. Und in Mannheim haben wir im Dialog mit dem Roten Kreuz und dem Regierungspräsidium gemerkt, dass unsere Lernferien für die Jugendlichen der Erstaufnahmeeinrichtung des Benjamin Franklin Village einen Beitrag für Integration und Teilhabe darstellen könnten. Und die Offenheit und der Wille sowohl des Regierungspräsidiums Karlsruhe als auch des Deutschen Roten Kreuzes im Sinne der neuen zugewanderten Jugendlichen waren sofort da.

Was waren die Herausforderungen, vor denen ihr bei Organisation und Durchführung dieser Lernferien standet?
Antonio: Die größte Herausforderung hieß Zeit. Wir mussten sehr kurzfristig eine zusätzliche Institution – das Regierungspräsidium Karlsruhe – und einen weiteren großen Player – das Deutsche Rote Kreuz – für das Projekt gewinnen und ins Projekt integrieren. Darüber hinaus musste sich das Team vor Ort in einem Kontext bewegen, der anders war als sonst bei den Lernferien: Wir haben aus einem Gebäude, das vor vielen Jahren die High School der amerikanischen Armee in Mannheim war, eine Schule gemacht. Und mit „wir“ meine ich vor allem das Team vor Ort rund um Michael und Angelina, der organisatorischen Leiterin. Die Unterrichtsräume hat das Team erst einen Tag vor dem Start überhaupt bekommen und wir hatten auch keine Ahnung, ob und wie viele Jugendliche am ersten Tag erscheinen würden.

Michael Raible, Pädagogischer Leiter der Lernferien am Standort Benjamin Franklin Village

Wie haben die neuen Fellows auf diesen Standort reagiert, der sich ja doch sehr von den anderen Lernferien, die an Schulen stattfanden, unterschieden hat?
Michael Raible: Am Standort selbst war die Stimmung nach einem ersten Rundgang zwiegespalten. Einerseits haben die Fellows dabei am eigenen Leib erfahren, was der abstrakte Begriff „systemische Grenzen“ ganz konkret bedeutet. Beispielsweise bei den Räumen, die Antonio schon ansprach: Es gab deutlich mehr Räume, als wir letztlich auf Grund verwaltungsrechtlicher Gegebenheiten zur Verfügung gestellt bekamen. Andererseits lag genau darin die riesige Chance des Standortes. Wir mussten einfach mit dem arbeiten, was wir hatten und konnten trotzdem durch unsere Arbeit versuchen in unserem Mikrosystem genau diese systemischen Grenzen zu verschieben – was uns letztlich auch gelungen ist.

Antonio: Fellows und Team haben großartig reagiert. Sie haben die Herausforderung angenommen und sehr aktiv Umfeld und Kontext gestaltet und ihm einen neuen Sinn gegeben – nämlich eine Schule daraus zu machen. Das war Leadership im authentischsten Sinne!

Michael, du hattest vor Ort die pädagogische Leitung. Wie hast du die zweieinhalb Wochen erlebt?
Michael: Neben der sehr großen Herausforderung zu Beginn der zweieinhalb Wochen war es für uns alle wahnsinnig beeindruckend, dort zu arbeiten, wo die Geflüchteten wirklich leben. Wir waren dort, wo diese Menschen zunächst gezwungen werden zu sein. Der Einblick in dieses System relativiert vieles. So war mir dann schnell klar, dass es meine Hauptaufgabe sein würde, diese beiden Systeme ineinander greifen zu lassen und zwar so, dass beide Seiten ihrer Arbeit mit größtmöglichem Erfolg nachgehen konnten. Sehr spannend war es dann, unser riesiges Tempo in die Arbeitsabläufe vor Ort einzuflechten und zu sehen, wie großartig mein Team und die Fellows das zusammen gemeistert haben! So mussten wir einige unserer vorher definierten Tagesabläufe vor Ort anpassen, um trotzdem größtmöglichen Erfolg für die Kinder und Jugendlichen zu erzielen. Dass sich dieser Erfolg vor Ort vor allem aus den Bereichen Verantwortung übernehmen und Partizipation ermöglichen speisen würde, war uns in dem Ausmaß im Vorfeld nicht klar. Alles in allem waren die äußerst anstrengenden beiden Wochen am Ende aber doch geprägt von einer tiefen Zufriedenheit und der damals noch unter der Oberfläche wabernden Gewissheit, hier wirklich etwas bewegt zu haben.

Nach den Lernferien habt ihr euch nochmal mit den Betreibern der Flüchtlingsunterkunft, dem DRK-Kreisverband Mannheim e.V., zusammengesetzt. Wie fiel das Fazit auf beiden Seiten aus?
Michael: Das etwas unklare Gefühl zum Ende der Lernferien hin, etwas bewegt zu haben, wurde uns vom Team des DRK ganz deutlich vor Augen geführt. Unser Augenmerk auf Partizipation und Verantwortungsübernahme hat sich insofern bewährt, als dass viele der Kinder und Jugendlichen sich immer noch sehr stark selbst organisieren und Verantwortung übernehmen. Aber das kann Antonio deutlich besser in Worte fassen als ich.

Antonio: Wir wollten unseren Partnern bei dem Gespräch die pädagogischen Ergebnisse vorstellen und sie um ein Feedback bitten. Wir dachten dabei, anhand unserer Prognoseinstrumente schon zu wissen, welche Ergebnisse wir mit den Jugendlichen erreicht hätten – alles mit Fokus auf den Lernfortschritt. Sehr gute nämlich. Die Sache ist dann etwas anders abgelaufen und unsere Partner haben uns erzählt, was die eigentlichen Ergebnisse der Lernferien waren: Für das Benjamin Franklin Village gab es eine Zeit vor den Lernferien und die Zeit danach. Unsere Partner haben gemerkt, dass die Jugendlichen nicht nur besser Deutsch konnten. Sie haben vor allem angefangen, sich als aktiv mitgestaltende Akteure der Unterkunft zu verstehen. Sie haben sich weiterhin regelmäßig getroffen, um gemeinsame Aktivitäten zu organisieren oder um Unterstützung dafür zu bitten. Sie haben zum ersten Mal aktiv danach gefragt, welche weiteren Angebote oder Workshops zur Weiterbildung möglich wären. Sie haben angefangen, nicht nur Verantwortung für sich zu übernehmen – was schon extrem wichtig ist –, sondern auch ihre soziale Verantwortung wahrzunehmen und beispielsweise als Scharniere zwischen Institutionen und ihren Eltern zu agieren. Und, was für unsere Partner außerdem auf das Konto der Lernferien zu verbuchen ist: Keiner der Jugendlichen, die bei den Lernferien mitgemacht haben, ist aus disziplinären Gründen auffällig geworden. DRK und Regierungspräsidium wollten daher bei dem Gespräch vor allem eines ausdrücken: Tiefe Dankbarkeit und großen Respekt für die Arbeit der Fellows und des Teams vor Ort. Wir alle wussten, welche großartige Arbeit das Team geleistet hatte, aber mit solchen systemischen und strukturellen Veränderungen hatten wir nicht gerechnet – und waren dementsprechend glücklich nach diesem Gespräch.

Was war euer schönster Moment während dieser zwei Wochen?
Michael: Auch wenn das jetzt an der Oberfläche sehr „Deutsch“ klingt, steckt dahinter doch deutlich mehr: Eine unserer Aufgaben bei den Sommerschulen liegt darin, den Kindern feste und verlässliche Strukturen zu bieten. So starten wir zum Beispiel jeden Tag gemeinsam zu einer festen Uhrzeit. Dass dieses starre Konstrukt eines gemeinsamen Startrituals dort vor Ort auf jeden Fall die schwierigste Aufgabe sein würde, war mir aus meinen Vorerfahrungen ziemlich klar und die Fellows wussten ebenfalls darum. Zu erleben, was das in der Realität heißen würde, dass am ersten Tag nämlich trotz aller Anstrengungen zum eigentlichen Beginn um 9:00 Uhr einfach niemand da war, war für einige doch sehr hart. Umso erstaunlicher war, dass am letzten Tag die circa 20 Schülerinnen und Schüler, die konstant an unserem Programm teilnahmen, alle pünktlich um 9:00 Uhr anwesend waren. Wichtig ist dabei nicht, dass wir ihnen die anscheinend deutsche Tugend der Pünktlichkeit vermittelt haben, sondern, dass diese Pünktlichkeit bedeutet, dass unser Ansinnen, den Schüler*innen vor Ort Orientierung und Struktur zu geben, tatsächlich funktioniert hat. Und das hat zu einem großen Anteil mit Vertrauen und Respekt zu tun. Das zu sehen, war sehr inspirierend für mich und ist der großartigen Arbeit meines Teams vor Ort zu verdanken.

Antonio: Ich hatte das Privileg, viele schöne Momente während dieser Herausforderung erleben zu dürfen. Einer war sicherlich der Moment nach dem ersten Gespräch mit Herrn Dr. Ammerich vom Regierungspräsidium Karlsruhe, als er mir zehn Tage vor dem Beginn der Lernferien mitteilte, dass das Regierungspräsidium ZAPup! sehr gerne auf dem Gelände des Benjamin Franklin Village hätte. Ein sehr schöner Moment war auch mein erster Besuch vor Ort – fünf Tage vor dem Beginn der Lernferien: die Begeisterung und Motivation der Koordinatorin des DRK vor Ort wahrzunehmen, die stets bemüht ist, trotz sehr schwierigen Bedingungen das Beste für die Gäste der Erstaufnahmeunterkunft herauszuholen und solche Projekte zu ermöglichen. Und noch ein magischer Moment war der Blick, den ich mit Michael am ersten Tag während der Mittagspause ausgetauscht habe: etwa 20 aufgeregte und neugierige Jugendlichen standen da zusammen mit den Fellows, um sich das Essen zu holen. Wir sahen sie zum ersten Mal alle zusammen und haben nicht nur gewusst sondern gefühlt, dass da etwas Wichtiges begonnen hatte. Und zuletzt habe ich auch einen tollen Moment beim Bergfest nach der ersten Woche erlebt. Alle Schüler*innen und alle Fellows der Mannheimer ZAPup!-Lernferien haben zusammen an der Kerschensteiner Schule gefeiert. Die funkelnde Freude in den Gesichtern von 130 Schülern und Schülerinnen beim Rappen – das ist unvergesslich.