Lyrik selbst schreiben? Das hat nix mit Goethe zu tun, sondern mit uns. Brauchen wir Reime? Nein. Brauchen wir Punkte? Nein. Wir brauchen: uns, unsere Erfahrungen und etwas Inspiration.

“Frau Hauser, keiner hat Bock ein langes Intro zu lesen. Es muss so kurz wie möglich sein.” “Gut, sammeln wir. Sagt mir, worum geht es in euren Texten?” Stichpunkte fliegen in den Raum, ich sammele am Flipchart. Und eigentlich ist das schon fast das Intro. Alles nochmal abtippen, ergänzen, fertig:

FUCKED UP - Literaturprojekt in Luckenwalde Lesung

Hallo. Wir haben ein Buch geschrieben. In unseren Texten geht es um unsere Zukunft, Religionen, kein Bock, Rassismus, Diskriminierung, Krieg, Vertrauen, Liebeskummer, Gewalt, LGBTQ, Ziele, Liebe, Mobbing, Traurigkeit, Hoffnung, Probleme, Angst, Herkunft, Sorgen, Erinnerungen, Meinungen, Selbstzweifel, Freude, Gott, Freundschaft, Vergessen, Weitermachen, Neuanfänge. Viel Spaß beim Lesen. 

Charlotte Franke, Michelle Drojetzky, Mohamad Salman Dalfe & Mohammed Khalil

Auf dieses Intro einigen sich die vier Schülerinnen und Schüler der freiwilligen Redaktion. Sie investierten nach dem Lockdown ihre Freitagnachmittage, um ihr Chapbook (so heißen im Amerikanischen kleine Bücher von Untergrund-Autor*innen) zu gestalten. Es ist herausfordernd, die Motivation hochzuhalten, Verantwortlichkeiten festzulegen, so viel Mitsprache wie möglich an die Gruppe zu übertragen und gleichzeitig dort zu unterstützen, wo es nötig ist. Aber es klappt. Schnell zeigten sich die Stärken aller: Michelle hat einen extrem guten Blick für kleine Fehler, Charlotte ist zuverlässig, hilfsbereit und ergreift die Initiative, Momo entwirft das Cover, sendet sogar am Wochenende Entwürfe, Salman legt die Textreihenfolge des Buches fest und findet einen Titel.

Vieles geht mir durch den Kopf

Mohammed Khalil

Während ich warte geht mir durch den Kopf
wie Menschen ohne Grund getötet werden

Während ich warte geht mir durch den Kopf
wieso manche Menschen miteinander so umgehen

Während ich warte geht mir durch den Kopf
wir leben in einer Welt voller Hass

Während ich warte geht mir durch den Kopf
es ist schwer jemandem zu vertrauen

Während ich warte geht mir durch den Kopf
mein Kopf ist zu

Literaturprojekt Fucked Up Luckenwalde Mohammed Khalil

Die Gedichte und Kurzprosatexte schreiben die Jugendlichen unter meiner Anleitung im Rahmen der Facharbeit Deutsch. Unter erschwerten Bedingungen: im Lockdown, teils ohne eigenen PC und ohne ruhigen Lernort.Trotzdem lassen wir uns nicht entmutigen und arbeiten gemeinsam beständig an den Texten. Das Ergebnis belohnt uns und berührt mich sehr: Texte, die Einblick in das geben, was diese jungen Menschen beschäftigt.

Pünktlich zum letzten Schultag steht das Chapbook und alle 75 Exemplare sind schnell vergriffen. Meine Schülerinnen und Schüler sind stolz, dass die Schule einen ganzen Klassensatz bestellt hat und man ihr Buch zukünftig auch in der Schulblibliothek ausleihen kann.

Im Juni endet mein Fellow-Einsatz, aber irgendwie ist uns allen klar: Das kann es noch nicht gewesen sein. Wir sprechen darüber, das Chapbook vor Publikum zu präsentieren, über damit verbundene Ängste, Befürchtungen und was es brauchen würde, um diesen Ängsten zu begegnen: Ein Lesungstraining und vielleicht jemanden, der uns Tipps gibt und uns motiviert. Das alles bekommen wir: Der junge syrische Lyriker und Metal-Musiker Sam Zamrik kommt mit ins Team und die Theaterpädagogin und ehemalige Fellow Hagia Jany sagt uns zu. Die Stadt Luckenwalde und die Initiative Chancenpatenschaften unterstützen uns finanziell, 100 neue Bücher können gedruckt werden. Das Kulturcafé klassMo und die Bibliothek Luckenwalde stellen uns Workshop- und Lesungsräume. Um unsere kreativen Bahnen zu erden und das organisatorische Drumherum zu bewältigen, kommt die Kulturmanagerin Lena Scheitz mit ins Team.

Literaturprojekt Fucked Up Luckenwalde EA

Erinnerungen

Enas Al Mufti

Welche Erinnerungen bringst
du zurück, Winter?
Und welche Nostalgie gibst
du zwischen deine Seiten?
Welche Traurigkeit versteckst
du zwischen deinen Zeilen?

Es heißt, wenn der Winter
beginnt, durchdringt das
Fenster des Herzens die
Seiten der verborgenen Vergangenheit

Ob es eine glückliche oder
eine traurige Erinnerung ist,
sie bringt uns Tränen

Hat die Vergangenheit ihre
Spuren auf dem Band des
Lebens hinterlassen?

Oder die Menschen, die den Zug unseres
Lebens begleiteten und nichts
als Gejammer zurück ließen?

Oder die Gefühle, die die Lebenszeit auffordern
sie zu kontrollieren, obwohl sie zwischen
den Erinnerungen verstreut sind?

Trotz all dieser Bitterkeit malen sie
uns ein Lächeln auf die Lippen
Können wir diese Seite
umblättern,
Lernen wir aus den Spuren zu lesen und
die Reise unseres Lebens zu vollenden?

Am Ende der Sommerferien gibt Sam Zamrik uns einen Workshop in der Luckenwalder Bibliothek. Hier erzählt er uns von seinen Erfahrungen als junger Autor und vom Umgang mit Lampenfieber. Die Jugendlichen stellen Fragen auf Arabisch und Deutsch. Sam Zamrik liest einen autobiographischen Text vor, in dem er auch davon erzählt, wie sein Ankommen in Deutschland verlief.

Der Lesungstermin steht. Freitag, der 20.08.2021, in der ersten Schulwoche. Beim Lesungstraining einige Tage zuvor liest Enas ihr eigenes Gedicht auf Arabisch vor, ihre beste Freundin Wafa sitzt neben ihr und liest anschließend die deutsche Übersetzung. Ich bekomme Gänsehaut bei den Proben:

“Können wir diese Seite
umblättern,
Lernen wir aus den Spuren zu lesen und
die Reise unseres Lebens  zu vollenden?”

Es ist wunderbar zu sehen, wie Unsicherheiten während des Trainings weichen und die Jugendlichen selbstbewusst und mit lauter Stimme ihre Texte vortragen. So ist es auch am Lesungsabend. Viele Lehrer*innen, Freund*innen der Jugendlichen und sogar die Schulleiterin sitzen im Publikum. Ein Fotograf hält den Abend fest, ein Buffet mit Quiche, Tapas und anderen Köstlichkeiten steht bereit. Die Texte von drei Schülerinnen und Schülern in Quarantäne werden als Aufnahmen eingespielt.  “Unglaublich, ich fand die Texte ja schon in eurem Buch toll, aber so vorgelesen entfalten sie nochmal eine ganz andere Wirkung!”, spricht mich eine ehemalige Kollegin in der Pause an. Diese Lesung wird nicht nur ein Ort der Begegnung,  sie kehrt auch die Verhältnisse um: Die Lehrer*innen hören den Schüler*innen zu. Sind aufmerksam, gespannt, berührt, klatschen und schenken den Schüler*innen an einem Freitagabend ihre ganze Aufmerksamkeit. Eine ehemalige Kollegin sagt, sie lerne ihre Schüler hier noch einmal von einer ganz anderen Seite kennen.

Gott

Mohamad Salman Dalfe

ALLAH, GOTT: ist eine wichtige Stütze für viele Muslime    Christen   Juden

Frag einen Muslim, wo Allah ist und er zeigt nach oben

Und frag einen Christen, wo Gott ist und er zeigt nach oben

Und frag einen Juden, wo Hashem ist und er zeigt nach oben

Literaturprojekt Fucked Up Luckenwalde SD

Die Autor*innen nehmen sich Zeit, ihre Worte in den Raum zu tragen, sind dabei ernst und aufmerksam. Gleichzeitig herrscht eine entspannte Atmosphäre, alle fühlen sich wohl. Die Jugendlichen wirken auf der Bühne und nach der Lesung stolz. Als “neues Hobby” bezeichnet Salman das Schreiben und Lesen eigener Texte. Und auch die anderen haben Lust weiterzuschreiben! Nach der Lesung witzeln wir sogar schon über unsere nächste Lesung in Berlin. Meine ehemaligen Schüler*innen haben geschafft, was sich manche Erwachsene niemals trauen: eigene Texte vor Publikum auf einer Bühne vorzutragen. Und es geht tatsächlich weiter: Am 23.10. sind wir nach Berlin-Neukölln zum Erzählfestival eingeladen. Die Vorbereitungen laufen.

Unser Autoren und Autorinnen:

Enas Al Mufti

Ich bin 2004 geboren, ich schaue gerne Filme und Serien und wohne in Luckenwalde.

Mohamad Salman Dalfe

Immer diskutieren, kein Bock, ich rede über alles, egal, was ist, ob wichtig oder nicht.

Michelle Drojetzky

Hey, ich bin 15 Jahre alt und lebe in Luckenwalde.
Meine Lieblingsfarbe ist blau. Ich höre gerne Musik und denke oft nach. Nach der Oberschule will ich gerne Abitur machen und danach irgendwas mit Medizin. Ich weiß aber noch nicht genau was. Mit mir kann man über alles reden, ich höre gerne zu und versuche zu helfen. Ich hoffe, euch hat unser Buch gefallen.

Malak Faour

Hallo, mein Name ist Malak und ich bin 16 Jahre. Ich komme aus Palästina und lebe in Luckenwalde. Ich habe sechs Geschwister. Meine Hobbys sind Schwimmen, Radfahren und Einkaufen. Nach der Schule möchte ich eine Ausbildung als Krankenpflegerin machen.

Charlotte Franke

Hey, ich bin Charlotte. Ich wurde 2005 geboren und wohne in Luckenwalde. Ich bin ein humorvoller Mensch und liebe es zu lesen.

Mohammed Khalil

Ich wurde 2004 geboren und wohne in Luckenwalde. Ich zocke gerne und gucke viele Animé-Serien.

Weitere Texte der Schüler*innen

Sara Hauser arbeite 2020-21 als Fellow des Programms ECHTE TEILHABE an der Friedrich-Ludwig-Jahn-Oberschule Luckenwalde. Als freiberufliche Literaturvermittlerin und Autorin befähigt sie junge Menschen zum Kreativen Schreiben.

Das Chapbook kann bei Sara.hauser@klasse2019.teachfirst.de bestellt werden.

Das Projekt wurde unterstützt von der Friedrich-Ludwig-Jahn-Oberschule Luckenwalde, der Stadt Luckenwalde, der Stiftung Bildung & dem Landesverband der Kita- und Schulfördervereine Berlin-Brandenburg e. V.

Photo Credits: Johannes von Plato.