30. November 2021

Projektunterricht am Spreehafen im schwimmenden Klassenzimmer „Fried“

Warum es viel mehr Projekte und außerschulisches Lernen an Schule braucht – ein Beispiel aus dem schwimmenden Klassenzimmer „Fried“

 

Wer mich kennt, der weiß, dass ich ein Projektmensch bin. Ich liebe Projekte, denn sie zeichnen sich durch das Zusammenarbeiten im Team hin auf ein konkretes Ziel bzw. eine konkrete Deadline aus! Über ein Schulprojekt aus dem letzten Schuljahr an einer Brennpunktschule in Hamburg möchte ich in diesem Text sprechen und zeigen, warum es mehr Projektlernen an Schule braucht.

Mich hat von Anfang an das Fach „Profil“ an meiner Schule begeistert. Dieses Fach wird vier Unterrichtsstunden in der Woche unterrichtet. Hier geht es nicht um rein fachliches Lernen, sondern vielmehr um die praktische Umsetzung von Projekten – ein Modellboot wird gebaut, Gerichte für die Schule werden gekocht, ein Fotokalender wird designt oder ein Theaterstück wird kreiert. Ebenso geht es nicht darum, sich frontal beschallen zu lassen, sondern darum, aktiv zu werden und sich selbstständig kreativ zu entfalten. Also das perfekte Unterrichtsfach für mich als Teach First Fellow. Ich hatte und habe dabei das Glück, diesen Unterricht auf einem Schiff durchführen zu dürfen.

Projektunterricht im schwimmenden Klassenzimmer

Ein Schiff? – Ja genau, das schwimmende Klassenzimmer „Fried“. Das ehemalige Bauhüttenschiff wurde zu einem modernen Hausboot umgebaut und ist der perfekte Ort, um ganz andere Lernerfahrungen abseits des klassischen Klassenzimmers zu machen. Dort habe ich im letzten Schuljahr einmal die Woche für vier Schulstunden Zeit mit einer halben Klasse verbracht.

Zum Unterrichtsstart morgens um 8 Uhr am Spreehafen pfeift den Schülerinnen und Schülern (SuS) auf den Weg zum Klassenzimmer schonmal richtig der Wind ins Gesicht und bei nassem Wetter muss vorsichtig gelaufen werden, um nicht direkt am Anleger hinzufallen. Hier kann man nicht einfach auf dem Smartphone tippend ins Klassenzimmer schlürfen. Von der ersten Minute an muss man hellwach sein und es geht sozusagen direkt los. In den ersten Wochen des Unterrichts wird noch groß protestiert „Üh, Herr Becker, es ist kalt!“, „üüuh, Herr Becker, das ist so weit zu
laufen“ oder „üüh, hier sind immer so viele Spinnen. Das ist ekelig.“ Aber mit der Zeit merken die SuS, dass dieser Unterricht anders ist und die Kommentare werden
weniger.

Schüler*innenpartizipation durch Dienste und Verantwortungsübergabe

Es fängt damit an, dass es eine Flut an Diensten zu verteilen gibt. Gibt es anfangs noch große Diskussionen über die Diensteinteilung und die Durchführung dieser, läuft es nach ein paar Wochen und es fallen Sätze wie, „Herr Becker, heute mache ich Flaggendienst!“ Kurz danach stehen alle wieder draußen vor dem Fried und die Unterrichtsflagge wird vom Flaggendienst gehisst, sodass auch jede Passantin und jeder Passant am Spreehafen sieht, dass gerade Unterricht stattfindet. „Aylin, vergiss nicht Bilder zu machen, damit ich die später für den Instapost verwenden kann!“, sagt Lejla, denn sie hat heute Instadienst. Mit dem Instadienst wird zu Hause die Stunde reflektiert und anschließend entsprechend korrigiert durch mich auf Instagram gepostet. Versuchte ich anfangs noch verzweifelt, die Stunde mit den SuS im schulinternen Logbuch zu reflektieren, merkte ich schnell, dass sich dafür etwas aus ihrer Welt viel besser eignet und kam so auf Instagram.

Wieder im Schiff angekommen, werden der Tagesplan und die Wetterdaten vom entsprechenden Dienst vorgestellt und das Zeitraffervideo vom vorherigen Zeitrafferdienst angeschaut. Häufig kommen in diesem Zuge Fragen wie zum Beispiel „Herr Becker, wie weit ist eigentlich der Mond von der Erde entfernt oder was ist eigentlich ein Blutmond?“. Natürlich kann ich nicht alles sofort beantworten, aber das ist ja kein Problem, denn so zeige ich den SuS, wie man richtig danach im Internet recherchiert. Irgendwann muss ich dieses oft intensive Gespräch aber abbrechen, denn wir wollen ja weiter an unserem Projekt arbeiten. Bevor die Gruppen aber eigenständig loslegen, bringen sie sich auf den aktuellen Stand und fassen zusammen, was sie schon geschafft haben und was sie heute erreichen wollen.

Der genaue Weg zum Projektziel entscheidet sich im Prozess

Während der Gruppenarbeit setzt das Schiff dann langsam auf Grund auf und ist etwas schief, sodass man das Laufen ausgleichen muss. Dies liegt am Tidenhub im
Spreehafen, der durchschnittlich 3,5 m beträgt! An diese Gegebenheit haben sich die Schülerinnen und Schüler aber sehr schnell gewöhnt und sind nicht weiter davon gestört. Allgemein fällt mir auf, wie anpassungsfähig die SuS sind. Ändert sich etwas an den Umständen, passen sich einige besonders schnell an und geben im besten Fall noch konstruktive Lösungsvorschläge, wie beim misslungenen Bemalen des CO2 Rucksacks in einer Gruppe. Die Farbe haftet nicht am Rucksack und ich stehe nachdenklich da und frage mich, wie man das Problem lösen könnte. Doch zum Überlegen komme ich gar nicht, denn schon sagt Yusuf: „Herr Becker, ein Jutebeutel funktioniert sicher viel besser!“ Gesagt, getan! Und in der nächsten Stunde sind wir begeistert, wie gut die Farbe am Jutebeutel haftet. Fertig ist der CO2 Rucksack. Dieses lösungsorientierte und gleichzeitig kreative Denken ist eine elementare Zukunftskompetenz, die besonders beim Projektlernen gefördert wird, denn anfangs wissen wir selten, wie genau wir zu unserem definierten Arbeitsziel – hier in diesem Fall ein fertig designter CO2-Rucksack kommen. Der genaue Weg dorthin entscheidet sich im Prozess. Dies ist eine Kernkompetenz, um sich in der zunehmend komplexer werdenden Welt zurecht zu finden.

 

Der große Wert des Scheiterns

Im letzten Teil der Stunde wird der heutige Gruppenarbeitsfortschritt vor den anderen Klassenkamerad*innen präsentiert. So wird jede Stunde indirekt für die mündliche Abschlussprüfung geübt und in einem sicheren Rahmen präsentieren gelernt. Gleichzeitig wird so ein Ansporn – neben dem großen Projektziel „Spreehafenfest“ – zum produktiven Arbeiten gesetzt. „Herr Becker, aber wir haben doch heute nichts geschafft. Warum sollen wir dann präsentieren?“. Ich antworte in Ruhe: „Semmi, das ist doch gar nicht schlimm! Auch wenn ihr meint, dass ihr heute nicht viel geschafft habt, habt ihr euch doch mit dem Thema beschäftigt und einige Probleme festgestellt. Genau diese Probleme sind ja der Grund, warum ihr nicht weitergekommen seid und genau darüber könnt ihr in eurer Präsentation sprechen.“ In der anschließenden Präsentation merken die SuS, dass es eben nicht immer nur darum geht tolles Gelingen in den Vordergrund zu stellen, sondern auch darum, offen über Probleme und das Scheitern zu sprechen. Scheitern und Schleifen drehen sind ein elementarer Bestandteil von Projekten und gleichzeitig ein Wert, der wohl in ihrer Welt viel zu wenig angesprochen wird.

Das schwimmende Klassenzimmer als geschützter und gesicherter Lernraum

Zum Abschluss der Stunde wird die Fahne wieder eingeholt und die Schiffsglocke geläutet. Erst danach können sich die SuS auf den Rückweg zur Schule machen. Damit ist eine weitere Profilstunde im sicheren, geschützten Raum des schwimmenden Klassenzimmers zu Ende gegangen, ein Raum und Ort den die Schülerinnen und Schüler gerade in diesen verrückten Pandemiezeiten mehr denn je brauchen. Denn der Fried am Spreehafen ist im wahrsten Sinne des Wortes zu einem sicheren Anker oder einer friedlichen Insel in diesen chaotischen Zeiten geworden.

Eine vielfältigere Schule durch Projektleiterinnen und Projektleiter

Ich frage mich im Moment, warum es nicht vielmehr von diesen Orten des Lernens gibt. Meiner Meinung nach müssen außerschulische Lernorte und externe Kooperationen mit fester Verankerung in der Schulwoche grundlegender Bestandteil eines jeden Stundenplans bzw. des schulischen Curriculums sein – nicht nur als Projekttag oder Projektwoche. An meiner Schule wird da schon sehr viel gemacht und getan. Die Umsetzung dessen ist aber leider häufig schleppend und sehr anstrengend. Meistens stehen und fallen Projekte mit dem Engagement einzelner Personen. Damit dies nicht so ist, braucht es viele weitere Häfen und Räume der Zusammenarbeit, in denen Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Politik zusammen mit Schulen Projekte entstehen lassen.

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Doch das Wichtige dabei sind die Kapitäninnen und Kapitäne, die dafür sorgen, dass das Boot auch wirklich in See sticht. Projektleitende also, die an Schule wirken, um Projekte ganzheitlich umzusetzen und durchzuführen. Schule muss in dieser Hinsicht vielfältiger werden, sodass es neben Lehrkräften, Sozial- und Sonderpädagog*innen auch Projektleiterinnen und Projektleiter gibt. Denn davon braucht es meines Erachtens viel mehr, um Projekte, wie die Erlebniswelt Spreehafen erfolgreich umzusetzen.

Oder hättest du dir in deiner Schulzeit nicht auch viel mehr Projektlernen gewünscht?

Natürlich ist mir bewusst, dass meine Schule und ich mit diesem Lernort ein großes Privileg haben, was nicht jede Schule hat. Dies ist allerdings nur möglich, da die Schule eng mit externen Kooperationspartnern arbeitet, um solche Lernerfahrungen möglich zu machen. Alle Namen, der im Text zitierten Schülerinnen und Schüler, sind abgeändert worden.

Infos zu Jens Becker

Jens ist Fellow der Klasse 2020 und an der Stadtteilschule Wilhelmsburg in Hamburg im Programm Sicherer Übergang tätig.

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