Lene, Fellow des neuen Jahrgangs, begleitete eine Woche einen Fellow der peruanischen Schwesterorganisation Enseña Perú. Hier erzählt sie, wie es dazu kam, von ihren Erlebnissen an der dortigen Schule und einem Kulturschock.

Die Schule in Arequipa und das Problem mit dem Muttertag

Jorge hat eigentlich keine Lust eine Karte für den Muttertag zu basteln. Erst nach Aufforderung der Lehrerin und nach meinem Angebot ihm dabei zu helfen, ist er bereit dazu. Jorge ist klein für seine zehn Jahre und von zierlicher Gestalt. Er trägt eine saubere, aber zerknitterte Schuluniform. Während wir Krepppapier zusammendrehen und es auf eine pinke Karte kleben, habe ich die Möglichkeit mit ihm über seine Mutter zu sprechen. Im Vorhinein hatte ich bereits von seiner Lehrerin und dem peruanischen Fellow den ich begleite erfahren, dass Jorges Familienverhältnisse schwierig sind. Ob er am Sonntag denn auch Zeit mit seiner Mutter verbringt? Ja schon, sagt er. Aber was sie dann unternehmen weiß er auch nicht so genau. Auf die Frage, ob er sich freut seine Mama zu treffen, nickt er.

Seine Mutter hat die Familie mit zwei Kindern verlassen. Der Vater arbeitet jeden Tag um die 17 Stunden als Taxifahrer. Einen großen Bruder hat Jorge zwar, aber der ist viel mit sich selbst beschäftigt. Als wir mit der Dekoration der Karte fertig sind, weiß Jorge schon genau, welchen Text er seiner Mutter schreibt: „Heute ist Muttertag und deswegen schreibe ich dir diese Worte, weil du mir das Leben geschenkt hast, deswegen schenke ich dir diese Karte.“ Ich glaube ihm, dass er seiner Mutter dafür aufrichtig dankbar ist.

„Du hast ja keine Mutter!“

Später am Tag übt seine Klasse einen traditionellen Tanz ein, für das Programm am Muttertag. Nur Jorge darf nicht mittanzen. Sein Vater ist nicht bereit, 25 Soles für das Kostüm auszugeben; sein Argument: „Du hast ja keine Mutter!“. Ich fühle den Schmerz dieses Jungen. Während der Tanzstunde, in der er nichts zu tun hat, muntere ich ihn mit Erzählungen zur Schule in Deutschland auf. Meine Geschichten interessieren ihn zum Glück sehr und er stellt viele Fragen. Ob es dort auch Armut gibt, fragt er. „Ja gibt es, aber das ist eine andere Armut als hier“, antworte ich.

Seit Januar habe ich einen Freiwilligendienst bei der Organisation Intiwawa in Arequipa gemacht. In einem engagierten und liebevollen Team betreute ich die Kinder einer naheliegenden Provinz von Montag bis Freitag. Neben Hausaufgabenhilfe und Bildungsprojekten gibt es dort auch Kunst- und Sportangebote. Um ehrlich zu sein, empfand ich die Arbeit manchmal als chaotisch, weil die meisten Freiwilligen nicht dafür ausgebildet sind und ständig Änderungen notwendig waren. Aber in dem anschließenden Schulpraktikum wurde mir klar, dass selbst das unprofessionellste Bildungsangebot besser für die Kinder ist, als nachmittags alleine zuhause oder auf der Straße rumzuhängen ohne Struktur und ohne wertschätzenden Kontakt zu anderen, so wie Jorge.

Enseña Peru

Schon lange hatte ich diese Auszeit nach dem Bachelor geplant. Mir war auch klar, dass das vorbereitende Schulpraktikum in Peru stattfinden muss. Im Gespräch mit Teach First Deutschland wurde mir gesagt, dass das kein Problem sei und die Emailadresse einer Koordinatorin der peruanischen Schwesterorganisation wurde mir mit auf den Weg gegeben. Diese brauchte ich dann gar nicht, da ich durch Intiwawa von selbst einen Alumnus von Enseña Peru kennenlernte. So kam ich über soziale Kontakte, wie das hier so üblich ist, völlig unkompliziert an das Schulpraktikum.

In dem staatlich-kirchlichen Colegio wurde ich von den Lehrern, aber vor allem von den Schülerinnen und Schülern mit Interesse und Neugierde empfangen. Ich begleitete während der Woche dort hauptsächlich meinen Fellow und unterstütze ihn einige Male bei Vorbereitungsarbeiten oder während des Unterrichts. Jeden Tag gingen wir zusammen Mittagessen und tauschten uns aus, was sehr wertvoll für meine Reflexion war. Er half mir dabei, kulturelle Hintergründe zu verstehen, erklärte mir seine Aufgaben und deren Schwierigkeiten. Außerdem interessierte er sich sehr für meine Perspektiven und Hinweise. Der Kontakt mit den Schülerinnen und Schülern war dabei meistens von ihrem Interesse an meiner Herkunft geprägt. Einige Gespräche konnte ich mit ihnen aber auch über ihren Schulalltag, ihre Familien und ihre Zukunftsvorstellungen führen. Viele haben Berufswünsche, die über den Lebensstandard ihrer Eltern hinausgehen.

Es war toll zu sehen, mit welcher Motivation und mit welchem Engagement der Fellow hier bei der Arbeit ist. Damit gewinnt er nicht nur die Aufmerksamkeit der Schülerinnen und Schüler, sondern auch deren Interesse an den von ihm vermittelten Inhalten. Er inspirierte mich, indem er den Schülerinnen und Schülern während des Unterrichtens durch Geschichten Lebensweisheiten veranschaulichte und Ihnen Bedeutendes erklärte. So vermittelte er zum Beispiel, dass bei jedem Problem die Einstellung zum Problem den Erfolg der Lösung bestimmt.

Das Muttertags-Fest

Am letzten Tag meines Schulpraktikums fand schließlich kein Unterricht statt, sondern das besagte Fest für den Muttertag, um welchen sich im Laufe der Woche alles gedreht hatte. Die gesamte Schule war mit Herzen dekoriert, die die Lehrerinnen gebastelt hatten, während der Fellow die Kinder unterrichtete. (Fast) alle Schüler führten den Müttern, die zahlreich erschienen waren, traditionelle Tänze vor. Zwischen den Vorstellungen wurden von zwei älteren Schülern Liebesgedichte für ihre Mütter vorgelesen und Geschenke an sie vergeben. Nicht nur in den Schulen ist der Muttertag in Peru so ein riesiges Ding, sondern tatsächlich überall.

Aus meiner Perspektive wird mit einer solchen Anerkennung für das Muttersein vermittelt, dass ein Mädchen eben kaum mehr werden kann als eine Mutter. Dieser Eindruck, gepaart mit dem Wissen, dass viele der schwierigen Lebensumstände der Kinder auch dadurch entstehen, dass Mädchen viel zu früh schwanger werden, machte mich sprachlos.

Aufbruch zum kulturellen Abenteuer: Von Schwierigkeiten und Chancen

Neben den Beobachtungen zu den Lehrmethoden war das Schulpraktikum in Peru vor allem ein kulturelles Abenteuer. Die Schule in Arequipa erfüllt Funktionen, welche ich an deutschen Schulen nicht kenne, oder welche nie als wesentlich wahrgenommen habe. Die Schülerinnen und Schüler bekommen in der Schule eine kindgerechte Struktur, die in ihrem außerschulischen Leben oft nicht vorhanden ist. Sie bekommen jeden Tag ein warmes Frühstück und den Zugang zu zahnärztlicher Versorgung. Die schulische Ausbildung vermittelt Grundwissen und macht bei günstigen Voraussetzungen einen Universitätszugang möglich. Das ist fast der einzige Weg in ein formales Ausbildungssystem. Mit den Fellows bekommen die Kinder zusätzlich die Möglichkeit, jeden Tag etwas Positives zu erleben, sie erleben eine Zeit in der sie sich ausprobieren können und bekommen jene Zuwendung, welche von anderen Erwachsenen in ihrem Umfeld oft nur Mangelhaft gewährleistet wird.

Ich habe gelernt, dass der Schulalltag und die Förderung der Schülerinnen und Schüler in Peru stark durch kulturelle Voraussetzungen und äußere Gegebenheiten bestimmt wird. Es  gibt nicht nur ein Gesetz, welches dem Lehrenden verbietet die Türe des Klassenzimmers zu schließen, sondern auch Bräuche und Rituale, die den Unterricht stören. So nimmt eine Zahnärztin unangemeldet während der Stunde Schülerinnen und Schüler aus dem Unterricht. Außerdem stehen jeden Tag um 12 Uhr alle während des Unterrichts auf, um begleitet von einer Lautsprecherdurchsage zu beten.

Durch beide Organisationen habe ich Menschen getroffen, die soziale Verantwortung übernehmen, indem sie Vorbilder für Kinder sind. Somit gestalten sie deren Zukunft mit, denn sie geben den Kindern eine Idee davon, wie sie ihr Leben selber aktiv gestalten können. Außerdem sind sie meistens inspirierende und interessante Menschen mit dem Herzen am richtigen Fleck. Daher freue ich mich sehr Teil des Netzwerks von Teach First zu sein. Ich bin gespannt zu erfahren, was meine dort gewonnen Eindrücke mit denen der anderen Fellow-Kandidaten gemein haben und inwiefern sie sich unterscheiden.

Fellow Marlene vor dem Machu Picchu

 

 

 

 

 

 

 

Autorin: Marlene Gaul ist Fellow der Klasse 2018 und hat ihr Schulpraktikum in Arequipa (Peru) gemacht.