Vom 6. bis 8. Oktober 2017 fand in Abu Dhabi das QUDWA 2017 Global Teachers‘ Forum statt. Unser Alumnus Clemens Otto hat Teach First Deutschland und das Teach For All-Netzwerk dort vertreten und berichtet im Gespräch mit Alumni-Managerin Britta Jansen von dieser Erfahrung.
QUDWA ist ein globales Lehrerforum, das Lehrerinnen und Lehrern aus aller Welt helfen soll, die Zukunft der Bildung zu verbessern. Gegründet wurde QUDWA unter der Schirmherrschaft des Kronprinzen von Abu Dhabi. Es lädt circa 800 globale Wegbereiter für Bildung ein und verfolgt das Ziel, eine interaktive Diskussion über folgende kritische Frage zu starten: Wie muss das Bildungssystem und der Unterricht des 21. Jahrhunderts aussehen, was bedeutet „Teaching for Tomorrow“?
Teach For All wurden rund 80 Teilnehmerplätze auf dem Forum zur Verfügung gestellt, daraufhin wurde unter den Alumni der Partnerprogramme ein Bewerbungsaufruf gestartet. Clemens Otto, Alumnus des 2009er Jahrgangs und Berufsschullehrer an der Anna-Warburg-Schule in Hamburg, hat einen der begehrten Plätze erhalten und Teach First Deutschland als ein Mitglied der europäischen TFAll-Gruppe vertreten.
Britta Jansen, Alumni-Managerin, hat Clemens Otto im Anschluss seiner Reise getroffen und ihn über seine „key learnings“ befragen dürfen.
Lieber Clemens, herzlich willkommen zurück in Deutschland! Wie geht’s Dir und wie war es?
Danke, Britta, es geht mir gut soweit! Die Konferenz war eine prägende Erfahrung, die mich in vielerlei Hinsicht inspiriert hat. Qudwa heißt auf Arabisch „Vorbild“, und ich habe in Abu Dhabi sehr viele spannende Menschen kennengelernt, die als Vorbilder in lokalen und globalen Kontexten wirken.
Was hat Dich zur Bewerbung motiviert?
Ich hatte das Glück, bereits an TFAll-Konferenzen in Mumbai (2011) und London (2012) teilnehmen zu können. Dort bin ich auf vielfältigste Art beeindruckt worden von dem, was in Schule möglich sein kann, wenn eine anspruchsvolle pädagogische Haltung und der sogenannte „Sense of Possibility“ zusammenkommt. Ich war mir sicher, dass ich ähnliche Erfahrungen in Abu Dhabi sammeln würde, die mich in meiner Arbeit bestärken und weiterbringen – und die ich in meinem Schulkontext und mit der TFD-Familie teilen kann.
Das QUDWA-Forum ist eine Art Schöpfungsquelle für neue Ideen und Lehransätze. Von welchen Ideen und Ansätzen hast Du erfahren? Und welche Personen haben Dich besonders inspiriert?
Schulbehörden und Schulleitungen sind gefordert, mutig zu sein und neue, auch scheinbar radikale Ansätze auszuprobieren, gerade um die Erfolgsaussichten von Schülern aus bildungsfernen Schichten zu steigern. Auf politischer Ebene muss der Umbau in Richtung Wissensgesellschaften schnell und fokussiert vonstattengehen. Ron Clark, ein Lehrer und Schulleiter aus Atlanta (USA) hat dazu folgende Geschichte in seinem QUDWA-Vortrag erzählt: Eine längst pensionierte Kollegin aus einer anderen Schule war mal zu Besuch in seiner Schule. Als es darum ging, vom oberen Stockwerk ins Erdgeschoss zu kommen, gab es zwei Möglichkeiten: Entweder sie nimmt die Treppe, oder sie nimmt die Röhrenrutsche, die die Schule für die Schüler*innen installiert hat. Trotz gesundheitlicher Bedenken hat sie sich für die Rutsche entschieden. Unten angekommen erkennt sie für sich eine Metapher: „Ron, ich wünschte ich hätte in meinem Lehrerinnenleben öfter die Rutsche genommen, dann wäre ich schneller ans Ziel gekommen und hätte mehr Schüler*innen erreicht“. Am Ende seines Vortrages hat Ron Clark mit dieser Metapher die Veränderungsbedarfe bei den Lehrer*innen und in den Bildungssystemen adressiert und uns „Take the slide!“ eindringlich nahe gelegt, also den Mut zum schnellen und fokussierten Weiterentwicklung.
Andreas Schleicher, OECD-Beauftragter für u.a. die PISA-Studie, ergänzte im Abschlussplenum, dass diejenigen Länder, die nicht oder zu langsam ihre Bildungssysteme modernisieren, in kurzer Zeit von progressiveren Ländern abgehängt würden. Ich denke, dass sich dies auch auf Schulen beziehen lässt: In sozial belasteten Stadtteilen müssen sich die Schulen schneller weiterentwickeln, um nicht noch weiter von Schulen aus wohlhabenderen Gegenden abgehängt zu werden. Die Modernisierung von Schulen, gerade in sogenannten sozialen Brennpunkten, ist damit logischerweise ein wichtiger Baustein für mehr Bildungsgerechtigkeit.
Abseits davon wird die Digitalisierung den Unterricht weiter verändern, insbesondere in Bezug auf Blended Learning, das hat das QUDWA-Forum herausgestellt. Die Lehrkraft steht hier den Schüler*innen als Unterstützung in ihren individuellen Lernprozessen zur Seite, während replizierbare Einheiten der bloßen Wissensvermittlung z.B. als Video online angeschaut werden.
Nach wie vor von großer Bedeutung sind außerschulische Lernorte, um den Schüler*innen lebensnahe Kompetenzen zu vermitteln. Besonders beeindruckt hat mich das vorgestellte Konzept von Kidzania, eine Erlebniswelt für verschiedenste Berufe. Schau Dir mal im Internet an, was die so auf die Beine stellen, da möchte man auch als Erwachsene*r gerne hin! Bisher gibt es noch keinen Kidzania-Ableger in Deutschland, vielleicht wäre das was für alle Entrepreneurs unter den Fellows und Alumni. Der Director von Kidzania, Ger Graus, hat in Abu Dhabi auf den Punkt gebracht, warum es wichtig ist, Kindern so viele praktische Erfahrungen wie möglich zu verschaffen: „Children can only aspire to what they know exist.“ Wenn Kinder aus sozial benachteiligten Stadtteilen keine echte Vorstellung von bestimmten Berufsbildern haben, werden sie auch kaum Motivation haben, den entsprechenden Bildungsweg einzuschlagen.
Innovationen in der Technologie und neue Ansätze für das Lernen im Klassenzimmer verändern den Lehrberuf drastisch. Diese Veränderungen haben erhebliche Auswirkungen auf die Art und Weise, wie Schüler*innen lernen und vor allem, wie Lehrkräfte sich auf neuen Lehrpläne, neuen Techniken und im Großen und Ganzen auf eine neue Norm vorbereiten, die traditionelle Lehrmethoden auf den Kopf stellt. Wie zeigt sich das bereits in Deinem Lehrerberuf?
Ich denke wir bewegen uns in einem Spannungsfeld: Einerseits sind manche Lehrpläne inhaltlich sehr umfangreich und anspruchsvoll, andererseits sollen die Schüler*innen möglichst viel praktische Handlungskompetenz erlangen. Beides passt nicht immer zusammen. Die neue Norm sehe ich in einer veränderten Lehrerrolle: Weg vom Instrukteur, hin zum Lernbegleiter und Prozessmoderator. Zusammen mit der/dem Schüler*in wird die Lehrkraft dann ein sogenannter Co-Konstrukteur, das heißt, beide erschließen sich die Bedeutung eines Lerngegenstandes gemeinsam – und lernen im besten Fall voneinander. Insgesamt sollte der Fokus eher auf Exemplarik und messbarer Kompetenz liegen als auf Generalisierung. Wenn ich mit meiner Erzieher*innenklasse ein Thema erarbeite, stelle ich oft als erstes die zu erreichende Kompetenz vor, die in den meisten Fällen eher allgemein formuliert ist. Dann sammeln wir inhaltliche Anliegen dazu und ich richte meinen Unterricht danach aus. Meistens mache ich der Klasse einen Vorschlag zum Vorgehen: Wie wollen wir uns diese Anliegen erarbeiten? Diesen Vorschlag modifizieren wir gegebenenfalls gemeinsam, danach habe ich die Rolle des Prozessbegleiters. In Abu Dhabi hab ich erfahren, dass solche Ansätze zur Methode des „backward design“ gehören.
Unsere Unterrichtsgespräche behandeln eher die Fragen der Schüler*innen als meine Fragen. Im Referendariat habe ich gelernt, dass es dabei darauf ankommt, den Schüler*innen möglichst viel Raum für Fragen zu geben, um sie bei ihrer individuellen Wissenskonstruktion zu unterstützen. Deswegen ist es zum Beispiel wichtig, von Lehrer*innen-Seite nicht „Gibt es noch Fragen?“ als geschlossene Formulierung sondern „Welche Fragen gibt es dazu? … und außerdem? … was noch?“ als offene Formulierung zu nutzen.
Wie wichtig sind Leadership-Skills für den Klassenraum?
Ich finde, man sollte den Leadership-Begriff nicht überfrachten, er darf nicht zur Hülle werden, hinter der man sich konzeptionell oder reflexiv verstecken kann. Es reicht doch völlig aus, von Verantwortung zu sprechen. Nach John Hattie lässt sich der Lernerfolg zu 50 Prozent auf den/die Schüler*in zurückführen und zu 30 Prozent auf die Lehrkraft. Wenn innerhalb dieser 80 Prozent gemeinsame Verantwortung für den Lernerfolg übernommen würde, dann wäre viel geschafft. Konkret heißt das für mich: Welche Haltung habe ich gegenüber meinen Schüler*innen? Wird diese Haltung respektiert? Kommen die Schüler*innen gerne in meinen Unterricht? Welche Interessen haben die Schüler*innen? Wie kriege ich möglichst viel Partizipation hin? Wie lässt sich ihre Motivation aufrechterhalten? Wie spezifisch sind die Zielsetzungen aller Beteiligten und wie ausgeprägt die Möglichkeit zur Selbstreflexion? An welcher Stelle muss ich instruieren und wo muss ich begleiten? Wie schaffe ich es, Leistungen konstruktiv und wertschätzend zu beurteilen? Die Liste lässt sich natürlich noch um zahlreiche Fragen erweitern. Zentral ist: Verantwortung lässt sich im Klassenraum nicht hin und her schieben. Unterricht ist eine gemeinsame Veranstaltung.
Welche Rolle spielt die Leidenschaft, wenn es darum geht, Lehrern zu helfen, glücklich und erfolgreich zu sein?
In Abu Dhabi war auch Daniel Lerner eingeladen, der an einer Uni in New York Kurse zur „Science of Happiness“ gibt. Er berichtete von Forschungsergebnissen zum Thema Leidenschaft und unterschied „obsessive passion“ und „harmonious passion“: Obsessiv für etwas Leidenschaft zu entwickeln, ist problematisch, da man sich selbst dabei verlieren kann. Die Leistungen und das Feedback mögen zwar hervorragend sein, aber Lehrer*innen mit „obsessive passion“ könnten z.B. in ihrer Verantwortung gegenüber ihrer Arbeit gefangen sein und ein negatives Selbstbild kompensieren. „Harmonious passion“ hängt dagegen stark mit intrinsischer Motivation und Flow-Empfinden zusammen. Man empfindet große Freude bei der Arbeit und ist mit großem Anspruch und Ausdauer bei der Sache, ohne dass die Arbeit notwendigerweise das ganze restliche Leben bestimmt.
Daniel Lerner wurde auf dem Forum gefragt, ob diejenigen Lehrer*innen, die keine „harmonious passion“ für ihre Arbeit mitbringen, ihren Beruf wechseln sollten. Er meinte, dass dies für einige eine Lösung sein mag. Gleichwohl würde es vielmehr darum gehen, im eigenen Leben für irgendeinen relevanten Bereich „harmonious passion“ zu entwickeln, da sich die zugrunde liegende Motivation auch auf andere Bereiche überträgt. Dies gilt für die Arbeit mit Schüler*innen genauso: Fördere ich ihre besonderen Stärke und lasse sie ihre „harmonious passion“ in der Schule ausleben, dann überträgt sich die Motivation auch auf andere Fächer.
Was sind die aktuellen Herausforderungen, denen Lehrer*innen bezüglich Inklusion gegenüberstehen, speziell in der Ausbildung von Schüler*innen mit besonderen Bedürfnissen? Was können Lehrer*innen tun, um noch mehr Unterstützung für diese Menschen zu leisten?
Auf dem QUDWA-Forum habe ich Aggeliki Pappa kennengelernt, eine Lehrerin aus Griechenland, die eine Schule eigens für Dyslexie-Schüler*innen gegründet hat: Für sie ist Inklusion in erster Linie keine Frage von Zeit oder Ressourcen, sondern von Einstellung: „There are no disabled children – they are differently able!“ Wenn mit Herz und Verstand gearbeitet und auf den individuellen Menschen geschaut wird, dann kommt es nicht darauf an, wer welchen besonderen Unterstützungsbedarf hat, weil alle Menschen in irgendeiner Form Unterstützungsbedarf haben. Dazu muss aber erstmal der Gedanke von Selektion aus dem Kopf, und das ist in Schule vor allem durch die Notengebung und durch formalisierte Strukturen schwierig. Inklusion braucht Spielräume in den Köpfen und in den Systemen. Wenn die Systeme diese Spielräume nicht möglich machen, wie sollen sie denn in den Köpfen auftauchen?
Gleichzeitig gilt: Wenn in den Köpfen keine Spielräume sind, wie sollen sich dann Systeme ändern? Die zentralen Herausforderungen im Bereich Inklusion sind: den einzelnen Menschen in den Blick nehmen, Empowerment ermöglichen und auf dem Weg dahin lernen, mit Ambivalenz produktiv umzugehen. Es geht nicht immer alles sofort und manchmal auch nicht so, wie man es sich für ein inklusives Miteinander wünscht. Aber das ist kein Grund zu sagen, dass Inklusion nicht funktionieren kann. Im Inklusionsverständnis meiner Schule haben wir festgehalten, dass sich Inklusion mit den Menschen entwickelt, die einen Anspruch an sie haben.
Zugang zu Bildung ist nicht nur ein Ziel an sich selbst, sondern ein Grundbaustein zur Schaffung einer besseren, nachhaltigen Welt. Nach Angaben der UNESCO könnten 420 Millionen Menschen aus der Armut geholt werden, wenn alle Erwachsenen die Sekundarbildung abschließen würden, was wiederum die Zahl der armen Menschen global um mehr als die Hälfte reduzieren würde. Wenn jedoch die aktuellen Trends anhalten, verlassen hingegen im Jahr 2030 weltweit 800 Millionen junge Menschen die Schule ohne eine Grundausbildung. Inwiefern können Lehrer der Schlüssel für nachhaltiges Wachstum, Aufbau von sozialem Zusammenhalt und Stabilität sowie Förderung von Toleranz und Gleichheit sein?
Indem man die UN-Ziele für Nachhaltige Entwicklung in Schulen integriert. Auf dem Forum habe ich mich in einer Mittagspause lange mit Mareike Hachemer unterhalten. Mareike ist Lehrerin in Hessen und setzt sich weltweit dafür ein, dass die UN-Ziele Bestandteil von Lernprozessen in Schulen werden. Ich kann Dir nur empfehlen, mal ihren TED-Talk zu diesem Thema anzuschauen. Darin weist sie darauf hin, dass es weltweit ca. 60 Millionen Lehrer*innen und ca. 1,2 Milliarden Schüler*innen gibt. Wenn die sich zusammen den UN-Zielen widmen, sieht die Welt in 2030 wesentlich besser aus, als die aktuellen Trends vorhersagen. Auch hier geht es um Verantwortung: Was können wir konkret und sofort tun, um unsere Welt zu verbessern?
Um die Ziele im Unterricht zu verankern gibt es bereits Seiten wie www.worldslargestlesson.globalgoals.org/de/ und auch eine Kooperation von Mareike mit lehrermarktplatz.de von TFD-Alumnus Dominik Dresel. Ich werde demnächst mit meiner Schulleitung klären, inwiefern sich die UN-Ziele bei uns in der Schule einbeziehen lassen. Und ich ermuntere hiermit die TFD- und die TFAll-Leitung dazu, die UN-Ziele in der Außendarstellung des Programms und in der Ausgestaltung der Schuleinsätze schwerpunktmäßig zu berücksichtigen. Die gemeinsame Vision der Partnerprogramme, „One day all children in the world will attain an excellent education“, lässt sich nur in einer nachhaltigen und inklusiven Welt verwirklichen.
Herzlichen Dank, Clemens, für Deine Zeit und den wertvollen Einblick in Deine gewonnenen Erkenntnisse!