Maria ist seit letztem Sommer Fellow an der Gustav-Heinemann-Gesamtschule in Dortmund. Sie lässt uns an ein paar persönlichen Gedanken zu Bildungsungerechtigkeit und ihrer Motivation für den Einsatz als Fellow teilhaben.

Am Wochenende habe ich mich mit meinem Cousin über meine Arbeit unterhalten. Er ist Unternehmnersohn und mit 31 Jahren fester Bestandteil der Firma seines Vaters und hat im Europäischen Ausland eine Tochterfirma gegründet. Als er hörte, dass ich nun an einer Schule arbeite, und das auch noch für einen Bruchteil von dem was er verdient war er schockiert: „Warum würde man denn sowas tun?!“

Ich versuchte ihm von Bildungsungerechtigkeit und von meinen Schüler*innen zu erzählen, doch irgendwie kam ich nicht zu ihm durch. Meine Aussage, dass er mit einem goldenen Löffel im Mund geboren sei, verneinte er. Und überhaupt, was hat das denn damit zu tun? Er sei schließlich auch ein schlechter Schüler gewesen und habe sich trotzdem durchgekämpft. Für seinen Erfolg habe er später hart gearbeitet. Das glaube ich ihm und irgendwie kommen mir nicht die richtigen Worte.

Erst jetzt, nachdem ich wieder in der Schule war, weiß ich was ich sagen will:

Ich glaube dir, dass du es geschafft hast, obwohl du kein guter Schüler warst. Vielleicht fiel dir die Schule genau so schwer wie meiner Schülerin Julie. Vielleicht konntest du viele Lehrer*innen genauso wenig ausstehen, wie sie. Wahrscheinlich fandest du den Stoff genauso langweilig und die Gespräche mit deinen Mitschüler*innen genauso viel spannender.

Du hast am Ende dieser Jahre als „schlechter“ Schüler mit Ach und Krach deinen Abschluss geschafft.

Wenn du so ein schlechter Schüler warst, warum hast du das geschafft?

Liegt es vielleicht daran, dass deine Eltern dich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln unterstützt haben?

Liegt es vielleicht daran, dass dich deine Eltern morgens in der Schule abgeliefert haben, um sicher zu sein, dass du zumindest einen Teil der Schulzeit auch wirklich anwesend bist?

Liegt es vielleicht daran, dass deine Eltern dir bei den Hausaufgaben geholfen hat?

Liegt es vielleicht daran, dass deine Eltern dafür gesorgt haben, dass du etwas zu essen, zu trinken, Kleidung und sogar immer neue Schulmaterialien hast?

Liegt es vielleicht daran, dass deine Eltern sogar wussten wann du die Klassenarbeiten schreibst und dich nervigerweise pünktlich und vehement daran erinnert haben, dass du dafür lernen musst?

Liegt es vielleicht daran, dass du dir um ein Dach über den Kopf nie Gedanken machen musstest?

Julie wird die Schule diesen Sommer wahrscheinlich ohne einen Abschluss verlassen. Wie kann das denn sein? Du hast es ja schließlich, als „schlechter“ Schüler auch geschafft.

Ich denke, es liegt daran, dass Julie in den letzten Jahren alle paar Monate umgezogen ist, weil ihr Vater Ärger mit den Nachbarn hatte.

Ich denke, es liegt daran, dass sie sich in der Schulpause per Handy darum kümmert, dass ihr Vater ihren Onkel aus Gefängnis abholt und für die Handybenutzung dann auch noch Probleme mit den Lehrer*innen bekommt.

Ich denke, es liegt daran, dass sie immer mal wieder feststellen muss, dass weder Essen noch Geld dafür da sind und sie dann überlegen muss, wie sie über das Wochenende kommt.

Ich denke, es liegt daran, dass sie schon über Jahre hinweg immer häufiger nicht zur Schule kommt und sie wegen der wachsenden Lücken dem Unterricht nicht folgen kann.

Ich denke es liegt daran, dass sie zu müde davon ist zu versuchen die Wohnung bewohnbar zu halten und niemand da ist um ihr Arbeit abzunehmen oder sie daran zu erinnern, dass sie trotzdem zur Schule gehen muss.

Du siehst schon worauf ich hinaus will: Ich bin mir sicher, dass Julie einen Abschluss machen würde, wenn sie deine Eltern hätte. Hat sie aber nicht. Wie sagen die Franzosen so passend: „Pas de bras, pas de chocolat.“ Wenn du keine Arme hast, kannst du dir auch keine Schokolade nehmen.

Was nun?

Nun ist es halb vier und ich sitze mit Julie auf dem Boden vor ihrem Klassenraum und lerne Mathe. Peinlich lächelnd sagt mir die 16-Jährige: „Oh Gott, ich weiß nicht mehr wie man mal rechnet!“. Schon wenige Minuten später hat sie erfolgreich die Hypothenuse des zweiten Dreiecks ausgerechnet.

„Warum würde man denn sowas tun?!“, höre ich dich sagen und die Antwort ist klar: Julie hat Schokolade, einen Abschluss und Perspektiven genauso verdient wie du. Solange weder ihre Eltern, noch unser Bildungssystem das für alle möglich machen, versuche ich es eben.

 

Autorin: Maria Tenberge ist Fellow der Klasse 2016 an der Gustav-Heinemann-Gesamtschule in Dortmund.